Berühmt wurde der Brasilianer Fernando Meirelles vor zehn Jahren mit „City of God“, der Reise zu den Grausamkeiten in den Favelas, den Armenvierteln von Rio de Janeiro. Seine nachfolgenden Filme, etwa die Bestselleradaption „Der ewige Gärtner“, waren schon gefälliger. Nun hat er sich Arthur Schnitzlers Theaterstück „Der Reigen“ vorgenommen. Das Stück wurde bereits mehrfach fürs Kino bearbeitet. Die erotischen Aspekte standen dabei stets im Vordergrund. Schnitzlers Sozialkritik geriet ins Hintertreffen.
Das ist bei „360“ ähnlich. Immerhin bietet er einige Momente, in denen er genau auf die Realität schaut. Beleuchtet wird überwiegend das bürgerliche Milieu. Ökonomisch in der Regel gut abgesichert, haben die Figuren vor allem psychologische Probleme. Zum Beispiel John (Anthony Hopkins), ein älterer Herr. Von der Begegnung mit einer schönen Unbekannten bleibt ihm nur ein mit dieser Binsenweisheit: „Wir leben nur das eine Mal. Wie viele Chancen bekommen wir?“ Das sind die Schlüsselsätze zum Film. Fernando Meirelles zeigt Menschen, die nach einer Antwort auf die Frage nach der einen großen Lebenschance suchen. Meist geht es dabei um die sexuelle Erfüllung.
Ausgerechnet die Episode um eine osteuropäische Prostituierte (Lucia Siposová) und deren Schwester (Gabriela Marcinkova) fesselt und berührt besonders.
Der Titel, „360“, verweist auf die 360 Grad eines Kreises. Das Ende ist der Anfang. Launig wird das illustriert. Es sind die Schauspieler, die locken. Jude Law, Rachel Weisz, Ben Foster, Juliano Cazarré und Moritz Bleibtreu haben Gelegenheit zu schönen kleinen Charakterstudien. Am spannendsten ist die Episode um eine osteuropäische Prostituierte (Lucia Siposová) und deren Schwester (Gabriela Marcinkova). Die Schlichtheit der Darstellung fesselt und berührt. Die Inszenierung hat Klasse. Fernando Mireilles setzt auf meist Sanftheit des Tons, verhaltenen Humor. Gefühlsausbrüche werden nicht grob vorgeführt. Andeutungen und Ahnungen überwiegen. Das gibt dem Film eine wohltuende Atmosphäre des Geheimnisvollen. Aus dem, was nicht gesagt und was nicht gezeigt wird, entstehen in den Köpfen der Zuschauer individuelle Filme.
Meirelles montiert die Momentaufnahmen klug und scheut nicht davor zurück, seine Zuneigung gerade zu den „ewigen Verlierern“ wirken zu lassen. Damit gelingt es ihm, im Gewöhnlichen das Besondere zu entdecken. Peter Morgan, zuletzt mit seinem Drehbuch zu „Die Queen“ überaus erfolgreich, hat Meirelles dazu ein dichtes Drehbuch geschrieben. Die Dialoge scheinen direkt aus dem wahren Leben zu kommen. Das garantiert eine große Glaubwürdigkeit. Meirelles Fähigkeit, Blicke und Gesten, wie klein sie auch seien, als Schlüssel zum Inneren der Figuren werden zu lassen, sorgt schließlich für einige sehr starke Augenblicke. So gelingt wohltemperierte Unterhaltung, die das berühmte Quäntchen mehr zu bieten hat.
Peter Claus
360, von Fernando Meirelles (Frankreich, Australien, Brasilien, England, Slowakei 2011)
Bilder: Prokino
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