In historischen Abenteuerfilmen, vor allem den als Mantel- und Degen-Filmen bekannten französischen, gehört Marie Antoinette fast zum Standard-Personal. Die von Legenden umwobene Königin, die mit nicht einmal 28 Jahren auf dem Schafott endete, wurde im Kino bereits seit mehr als einhundert Jahren immer wieder zur romantischen Ikone stilisiert. Gelegentlich wurde sie auch in die Rolle der fortschrittsfeindlichen Reaktionärin gedrängt. Die verschiedenen Lesarten spiegeln die Diskussion der Historiker. Wer und wie sie wirklich war, ist umstritten. Die Gemahlin von Ludwig XVI. ist offenbar nicht wirklich zu fassen.
Diese Romanverfilmung versucht erst gar nicht, das zu ändern. Die stilisierte Inszenierung gerade der Tochter von Kaiserin Maria Theresia von Österreich signalisiert, dass es hier nicht um eine getreue Rekonstruktion des Gestern geht, sondern darum, anhand eines Modellfalls zu zeigen, wie die Beteiligten wichtiger historischer Momente und Ereignisse, diese selbst gar nicht wirklich begreifen können. Damit drängen sich die Assoziationen zur Gegenwart unweigerlich auf.
Regisseur Benoît Jacquot nimmt in der Adaption des vor zehn Jahren erschienenen Romans von Chantal Thomas die Perspektive eines Dienstmädchens, einer Vorleserin der Majestät, ein. Dasein und Denken am Hof von Versailles bilden den Rahmen für eine zunächst erst einmal mit Krimispannung unterhaltende Story: Marie Antoinette (Diane Kruger) verbringt den 14. Juli des Jahres 1789 in gewohntem Gleichmaß. Sidonie Laborde (Léa Seydoux), eine ihrer Vorleserinnen, ebenso. Die eine lässt sich bedienen, die andere dient. Doch es lauert spürbar Unruhe hinter den mit Seidentapeten verkleideten Türen der Prunkgemächer, geistert mit den Ratten durch die düsteren Gänge und kargen Zimmer der Bediensteten. Am nächsten Morgen schließlich stellt sich heraus, dass der König (Xavier Beauvois) aus seinem Nachtschlaf gerissen wurde. Das Volk hat in Paris rebelliert und die Bastille erstürmt. Sidonie wird klar, dass Ungeheuerliches passiert ist. Die Tragweite des Geschehens jedoch kann sie nicht ermessen. Genauso ergeht es der von ihr angebeteten Marie-Antoinette. Die weiß zwar, dass sie ganz oben auf der Todesliste der Revolutionäre steht. Doch was das tatsächlich bedeutet, ahnt sie nicht einmal. All ihr Denken gilt allein der geliebten Gefährtin Gabrielle de Polignac (Virginie Ledoyen). Sie gilt es zu retten. Dafür braucht die Königin Sidonie. Die schöne junge Frau soll an Stelle der adeligen Freundin auftreten und so dafür sorgen, dass dieser die Flucht aus Versailles in die rettende Ferne gelingt. Was, ganz klar, der Dienerin in der Rolle der Adeligen das Leben kosten kann. Bis zum bitteren Ende ist nicht klar, ob Sidonie überlebt oder nicht. Das ist unterhaltsam. Doch es ist nicht das Entscheidende des Films. Das liegt in der klugen, differenzierten Zeichnung der Milieus der Herrschenden und Unterdrückten. Ruhig gleitet die Kamera durch die Gemächer der Besitzenden und durch die Räume der Rechtlosen. Allein diese Bilder zeigen den Clinch der Kulturen, der 1789 eskalierte. Die Assoziationen zu heutigen Ereignissen, etwa im arabischen Raum, sind unübersehbar, obwohl darauf erfreulicherweise mit nicht einer Dialogzeile hingewiesen wird.
Zuletzt präsentierte Regisseurin Sophia Coppola 2006 Kirsten Dunst in einem verspielten Kostümschinken als Partygirl, dabei als schillernde Zentralgestalt. Hier ist sie Randfigur, eine allenfalls ungläubig den Gang der Ereignisse beobachtende Randfigur. Sie ist eine letztlich unwichtige Gefangene ihrer Herkunft und ihrer daraus resultierenden Rolle als Symbol der Macht, ein Opfer der Zeit, fremdbestimmt in jeder Sekunde ihrer Existenz. Diane Kruger setzt in der Rolle einige einprägsame Akzente, indem sie erfolgreich versucht, Ecken und Kanten im Charakter der Figur frei zu legen. Das ist sehr wirkungsvoll. Den Film aber trägt Léa Seydoux als Sidonie. Sie zeigt eine Frau, deren Bildung beschränkt, doch deren Überlebenswille groß ist. Sie wird zum Prototyp der einfachen Leute, die mit ihrem Hunger nach Brot und Menschenwürde das bestehende Netz sozialer Regeln zerreißen, ohne auch nur zu ahnen, dass ihr Handeln den Gang der Welt nachhaltig mit verändert.
Für Gefühlsduselei hat Regisseur Benoît Jacquot dabei keine Zeit. Mit kühler Distanz zeigt er eine kleine persönliche Geschichte und spiegelt dabei die große Historie. Dabei setzt er nicht auf grelle Reize. Dabei wird der Film auf publikumswirksame Art zur kraftvollen Ergänzung der Geschichtsschreibung. Die guckt bekanntlich vor allem auf die Leute mit den berühmten Namen. Menschen wie Sidonie werden als Individuen meist übersehen. Dabei sind sie es, die den Gang der Welt entscheidend beeinflussen.
Peter Claus
Leb wohl, meine Königin!, von Benoît Jacquot (Frankreich/ Spanien 2012)
Bilder: Capelight (Central)
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