Verunsicherung wird eher als Störfaktor empfunden. Abbas Kiarostami macht in seinem Film klar, dass Verunsicherung durchaus auch produktiv sein kann.
Zwei Menschen geraten aneinander: die aus Frankreich stammende Antiquitätenhändlerin Elle (Juliette Binoche) und der englische Autor James (William Shimell). Er absolviert eine Lesereise durch Italien. Der Anlass: sein neues Buch. Das befasst sich mit dem Wert von Kopien. Elle taucht mit Sohnemann bei einer der Veranstaltungen auf, spricht mit James, gibt ihm ihre Telefonnummer. Schon einen Tag später reisen die Zwei gemeinsam in die Toskana. – Für die Zuschauer setzt spätestens hier Verunsicherung ein: Ist es tatsächlich nur einen Tag später? Wird ein Blick zurück offeriert? Sind in der Handlungszeit vielleicht Wochen, Monate, Jahre vergangen? Das Paar scheint kaum einen Zeitbegriff zu haben. Sie reden, streiten, diskutieren über Kunst, über Original und Fälschung, über Freundschaft, Liebe, das Leben an sich. – Die Verunsicherung des Publikums wächst: So, wie die Beiden miteinander umgehen, können sie sich nicht erst seit Kurzem kennen. Was steckt dahinter?
Kiarostami – da ist der Film ganz Versuchsanordnung – präsentiert einen Blick auf lange Lebenslinien, gebündelt im Ablauf eines Tages. Lediglich kleine optische Veränderungen machen klar, dass hier ein ziemlich weiter Bogen durchschritten wird. Das wird spannend, ja, aufregend, wenn der Diskurs über Zusammenhang und Kontrast von Original und Fälschung (Wahrheit und Lüge) auf die Protagonisten übertragen wird. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt einen Hochgenuss, regt das Vexierspiel doch zu einer Flut von Gedanken über das eigene Ich an, darüber, wieweit man sich selbst treu geblieben ist.
Juliette Binoche (die schon am Drehbuch mitgearbeitet haben soll) vor allem trägt den Film und holt ihn aus allem Theoretisieren heraus. Trotz der Schwere der vielen, vielen Dialoge bringt sie eine schöne Leichtigkeit ein. 2010 gab es dafür bei den Filmfestspielen in Cannes die Auszeichnung als beste Darstellerin. An ihrer Seite gibt der englische Tenor William Shimell ein beachtliches Debüt als Schauspieler. Auch er: federnd, oft fast schwebend, nie ganz wirklich und erdverbunden.
Schlüssel für das Verständnis des Films sind für viele sicher kleine Schlaglichter: Elle und James treffen auf ihrer Reise mehrfach andere Paare, frisch verheiratet die einen, an der Schwelle des Todes die anderen. Da spiegelt sich in Momentaufnahmen die gesamte mögliche Spanne menschlicher Zweisamkeit. Und es stellt sich die Frage, ob es klüger ist, allein auf Originalität zu pochen oder doch dieses und jenes von anderen zu übernehmen, die Kopie als Vorlage zur eigenen Originalität zu machen.
Peter Claus
Die Liebesfälscher, Abbas Kiarostami (Frankreich / Italien 2010)
Bilder: Alamode
- „Rosenmontag For Future“ Oder: Lachen schult das freie Denken - 9. Februar 2020
- Thilo Wydra: Hitchcock´s Blondes - 15. Dezember 2019
- Junges Schauspiel am D’haus: „Antigone“ von Sophokles - 10. November 2019
Schreibe einen Kommentar