Erst vor ein paar Tagen prangte folgende Schlagzeile in diversen Tageszeitungen groß und fett an prominenter Stelle: „Aktienhändler rücksichtsloser als Psychopathen“. Eine Studie der Universität St. Gallen hat Börsenmaklern nachgewiesen, dass sie ein egoistischeres Verhalten als Personen mit einer klinisch festgestellten antisozialen Persönlichkeitsstörung an den Tag legen. Nun sind Börsianer die Hauptfiguren in dem von J. C. Chandor mit beklemmender Dichte inszenierten Psycho- und Gesellschaftsthriller „Margin Call“. Der Filmtitel ist ein Fachausdruck der Finanzmarkt-Szene, eine Art Notruf, der auf mögliche Katastrophen verweist. Verstehen muss man das als Zuschauer zum Glück nicht. Nur das zunächst: Die Handlung beginnt am Tag vor dem Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008. In einer New Yorker Investmentbank werden überraschend, nach einem militärisch exakten Plan, -x Mitarbeiter entlassen. Binnen Sekunden haben sie keinen Zugang mehr zu ihren Computern und Diensthandys. Einer der Geschassten (Stanley Tucci) steckt jedoch einem Kollegen, dem Analysten Peter Sullivan (Zachary Quinto), einen Stick für den PC zu. Darauf finden sich begonnene Berechnungen zu Fragen der Marktentwicklung. Peter beendet die Arbeit und erkennt, dass eine Katastrophe ansteht. Er löst Alarm aus. Spätnachts lädt der Chef (Jeremy Irons) zum Meeting. Ganz klar: Es werden Köpfe rollen. Aber wessen? Die Anspannung ist enorm.
Anfangs stellt sich der Eindruck ein, J. C. Chandor wolle um Mitleid mit den ach so armen superreichen Bankern buhlen. Bald ist klar: Er stellt deren Tun grundsätzlich in Frage und die Gier der Profithaie an den Pranger. Damit gelang ihm ein wirklich packendes Regiedebüt. Er treibt die Story mit Elan voran, setzt dabei aber nie auf Hektik, um die Dramatik anzuheizen, sondern auf die tatsächlichen menschlichen Tragödien, die sich in den Gesichtern seiner Schauspieler spiegeln. Kühles Blau dominiert nahezu alle Bilder. Da wird die Eiseskälte, mit der Finanzhaie das Ersparte von unzähligen Anlegern skrupellos als Spielgeld zur Erhöhung des eigenen Profits einsetzen, sehr deutlich spürbar. Der mörderische Zynismus, der offenbar in der Welt des großen Geldes den Ton angibt, kommt auch in vielen klugen Dialogen zum Ausdruck. Einmal überlegt einer der Protagonisten beispielsweise, dass die nun anstehende Weltfinanz-Krise vielleicht nicht sehr angenehm für „real people“, für „richtige Menschen“, ist. Damit ist klar, wie weit die hier zu sehenden Menschen, die den Vorbildern wirklicher Finanzmanager nachempfunden wurden, vom Alltag in den bürgerlichen Gesellschaften entfernt leben. Ein Kollege des kurz mal Grübelnden, teuflisch smart von Paul Bettany verkörpert, findet solche Gedanken überflüssig. Nur sein Einkommen zählt. Er muss schließlich unentwegt zahlen: jährlich etwa 50.000 Dollar für Klamotten und 75.000 für die Nächte mit den professionellen Damen, in denen er dann die schicken Klamotten fallen lässt. Nur wenige Male wird der Film ein wenig zu deutlich, zum Beispiel dann, wenn die Kamera aus luftiger Höhe in die Tiefe der New Yorker Straßenschluchten stürzt und so etwas vordergründig auf den enormen Fall der Weltwirtschaft verweist.
Klug: die Typen in den teuren Anzügen werden nicht als Monster denunziert. Als Zuschauer, der man geradezu fassungslos dem Verschleudern des Geldes zuguckt, kann man auf Grund der Inszenierung und des durchweg packenden Schauspiels nicht anders, als auch das Menschliche in den Protagonisten zu entdecken. Das jedoch ist total kaputt. Und man wünscht sich, dass die Damen und Herren der Politik, den Psychopathen sehr schnell eine sehr strenge medizinische Betreuung verordnen!
Peter Claus
Der große Crash – Margin Call, J. C. Chandor (USA 2010)
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