Au, Backe – der Titel klingt nach Pantoffelkino-Seelensauce. Doch das täuscht. Geboten wird ganz anderes.
Die Story hat nichts mit üblichem Liebesgeplänkel zu tun: Martha (Sandra Hüller) packt die Koffer, um mit Paul (Felix Knopp) nach Marseille zu gehen. Er, der hochdotierte Mediziner, hat dort einen tollen Job bekommen, ist schon vorgefahren. Da taucht die Polizei auf und erklärt der jungen Lehrerin, dass ihr Mann tot sei. Suizid. Martha ist fassungslos. Sie kann das Unvorstellbare nicht glauben, ahnt keine Gründe für die Tat. Dann grübelt sie, fragt nach, sucht. Sie findet heraus, dass Paul ein Lügner war. Die angeblich so gelobte Doktorarbeit hat er nie geschrieben. Alles, wirklich alles, war Erfindung. Was nun? Martha fühlt sich verloren. Um wieder zu sich zu kommen, beginnt sie eine Affäre. Doch damit verhält sie sich so, wie Paul sich immer verhalten hat: Sie macht sich und dem Gegenüber etwas vor. Was der Mann ziemlich schnell durchschaut. Krise! Daraufhin droht Martha ein fast völliger Realitätsverlust. Die große Frage ist, ob sie aus dem Lügengespinst je wieder herausfindet.
Drehbuchautor und Regisseur Jan Schomburg beobachtet Menschen, die aus der Rolle fallen. Martha und die anderen funktionieren nicht wie Maschinen. Sie verlassen alle Routine, suchen nach sich selbst. Sie müssen das tun, sonst werden sie verrückt. Die Welt um sie herum erscheint ihnen wie ein großes Rätsel, unbestimmt bedrohlich, fern. Kurz: Sie spüren die überall um sich greifende Entfremdung und haben diffuse Ängste. Warum das so ist, wird erfreulicherweise nicht erklärt. Klar ist nur: Bei allen modernen Möglichkeiten der Kommunikation haben Martha und die anderen den Sinn fürs Wahre verloren. Wirkliche Gespräche, Dialoge, sind ihnen unmöglich. Das ist schon allein deshalb so, weil sie nicht einmal mehr Zuhören können. Die Generation der ständig Verdrahteten hat keinen Draht zur Außenwelt mehr. Kein Anschluss unter dieser Nummer, das ist im Grunde alles, was sie noch von sich geben, versteckt hinter einem Schwall sinnlosen Geredes.
Vordergründige Bilder und Dialoge gibt es hier nicht. Der Film, uraufgeführt im Februar bei der Berlinale und dort vielfach gefeiert, setzt auf leises Beobachten und verhaltene Zwischentöne. Schomburg hat den Mut zum Innehalten. Dabei blickt er geduldig auf die Gesichter der Handelnden. Darin spiegelt sich wenig außer dem Ungeist einer Gesellschaft, die nicht mehr auf Gemeinschaft setzt, sondern den Überlebenskampf jeder und jedem selbst ganz allein überlässt. Der Film reflektiert das geradezu brutal scharfkantig. Erst komm ich, danach nichts und niemand mehr. Auch wenn der Schluss, vielleicht als Zeichen der Hoffnung auf Besserung, etwas versöhnlich anmutet, geht der Schreck angesichts des Dramas tief.
Hauptdarstellerin Sandra Hüller gibt Martha in den unterschiedlichsten emotionalen Stadien feinnervig Gestalt. Ihre Präsenz nimmt einen völlig gefangen. Egal, ob sie die Figur nun scheinbar „cool“ oder hysterisch zeigt. Jeder Moment wirkt wahrhaftig. Martha mutet schließlich wie eine Symbolgestalt unserer Zeit an. Denn so, wie in der Politik, hält sie es im Privaten: Verdrängung ist alles. – Man bekommt eine Gänsehaut.
Für Fans des knalligen Popcorn-Kinos ist das natürlich nichts. Wer’s jedoch intelligent mag, auch mal grüblerisch, wird bestens bedient. Den etwas unglücklich gewählten Titel sollte man einfach ignorieren.
Peter Claus
Über uns das All, Jan Schomburg (Deutschland 2011)
Bilder: RealFiction
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