Die Revolution und der Rotwein
Raoul Peck nimmt sich des jungen Karl Marx an und macht daraus ein unterhaltsames Kostümdrama aus dem 19. Jahrhundert.
Wenn man sich auf die Gesetze eines Kostümfilms aus dem 19. Jahrhundert einlässt und keinen Anstoß an den Klischee-Bildern von zylindertragenden, bärtigen Bürgern im Gehrock und dreckstarrenden, pauperisierten Menschen in Lumpen nimmt, wenn man bereit ist in Kauf zu nehmen, dass hier mit den Namen von Philosophen, Königen, Ministerpräsidenten und Aufrührern, die durchweg in Vergessenheit geraten sind, ehrfurchtgebietend geklappert wird, dann, ja dann ist Raoul Pecks „Der junge Marx“ ein unterhaltsamer Film.
Marx (August Diehl) ist noch ein junger Hecht, der ein Kind nach dem anderen zeugt. Er hat eine überirdisch gefühlvolle Frau, die den Weg aus dem Adelshaus in die Armut gewählt hat und diesen Schritt in keinem Moment bereut. Jenny (Vicky Krieps) steht unverbrüchlich an Karls Seite und als ihr geliebtes Kindermädchen Lenchen aus Trier zu ihnen stößt, kann selbst bittere Armut im Brüsseler Exil sie nicht umwerfen. Mit dem Geld von Fabrikantensohn Friedrich Engels kann es das Trio sich sogar leisten, im schäbigen Hinterhof zu tafeln. Karkassen von Krustentieren auf den abgegessenen Tellern zeugen von einer kleinen Prasserei. Das Leben eines Revolutionärs kann auch schön sein.
Marx sitzt noch nicht in London in der British Library und kritzelt dort Seite um Seite mit Exegesen für das „Kapital“ voll und hat noch keinen von Eiterbeulen entstellten Körper. Stattdessen verbringt er wie ein Bohemien die Nächte im Wirtshaus beim Schachspiel, ist streitlustig mit Verlegern und Zeitungskollegen und macht sich einen Spaß daraus, die Pariser Polizei an der Nase herumzuführen.
Zusammen mit Freund „Fred“ Engels (Stefan Konarske) und mit tatkräftiger Hilfe ihrer Frauen Jenny und Mary Burns bringt Marx in atemloser Hast und unter gnadenlosem Zeitdiktat das Kommunistische Manifest zu Papier. Ein genialisches Gespenst, das fortan die Welt in Hoffnung und Angst versetzten sollte. Aber das liegt schon außerhalb des Erzählhorizonts von Raoul Peck und Pascal Bonitzer, die sich dank einer weisen Beschränkung auf die Sturm- und Drangjahre von Marx & Engels nicht mit so kniffligen Fragen herumschlagen müssen, wie der tendenzielle Fall der Profitrate jenseits von Klippschule und Hauptseminar sinnlich anschaulich dargestellt werden kann. An diesem Dilemma sind schon frühere Dramaturgen-Generationen bei der DEFA gescheitert. Sie wollten natürlich den ganzen Marx verfilmen, und nicht nur den vor-marxistischen. Es blieb bei Versuchen: ein Kinderfilm, ein Animationsfilm und eine szenisch-dokumentarische Fernsehserie, in der Berge von Papier bewegt werden, um die mühevolle Exzerpt-Arbeit am „Kapital“ zu belegen.
Bei Raoul Peck wird viel getrunken. Kaum eine Szene, in der nicht Rotweinflaschen geleert werden. Fast möchte man glauben, die Entstehung der kommunistischen Bewegung sei nicht so sehr von der Entdeckung des Industrieproletariats als neuer revolutionärer Kraft als von der beseligenden Wirkung des Alkohols beflügelt. Konkurrent Wilhelm Weitling, der sich offenbar als einziger dem Weißwein hingibt und dessen Bund der Gerechten von Marx und Engels in einem putschistischen Akt à la Lenin erobert wird, hat den ambivalentesten Satz des Films auf seiner Seite. Er verabschiedet sich aus der Bewegung mit der düsteren Prophezeiung, dass die Kraft der Kritik wie der Kritik der Kritik am Ende alles zersetzen werde. Wenn Weitling erlebt hätte, wie im Namen von dialektischer Kritik eine Säuberungswelle nach der anderen durch die Kommunistischen Internationale gefegt ist – er hätte sich bestätigt gefühlt. Aber dieser Satz ist im Film nur die Sottise eines verbitterten Mannes, eine Idee, die nicht weiterverfolgt wird.
Letztlich ist „Der junge Karl Marx“ eine Hagiographie auf einen großen Denker, Wissenschaftler und Arbeiterführer, dessen Regisseur sich nicht zu schade ist, ihn so nebenbei sagen zu lassen: „Alle Philosophen haben bisher immer nur interpretiert, die ganze Welt interpretiert, aber man muss sie verändern.“ Der Kater, den Marx nach dem Kennenlernen von Engels verspürt, verfliegt mit der Zeit, aber die Idee der vom Kopf auf die Füße gestellten Philosophie bleibt wirkmächtig und geht in die Geschichtsbücher ein. So ist das im Biopic, wo sich kleine Anlässe und große Gedanken unentwirrbar vermischen.
„Der junge Karl Marx“ bricht mit seiner Erzählung am Vorabend der Pariser Revolution von 1948 ab. Dafür bietet Raoul Peck als Epilog einen Bilderbogen der modernen Aufstände und Revolten, der bis zu Che Guevara und den Occupy-Demonstranten reicht und mit einem Bob-Dylan-Song unterlegt ist. Die Absicht ist klar: Der real existierende Sozialismus mag sich abgeschafft haben, aber Marx’ Idee und Weltanschauung leben weiter. Unrecht und Ungleichheit sind weiter in der Welt und immer wieder finden sich Widerständige, die dagegen aufstehen. Wobei Peck gnädig unterschlägt, dass bei vielen Protesten dieser Art nicht mehr Marx und Engels Pate stehen. Hier waltet – aus deutscher Sicht gesehen – eher Ernst Bloch und sein vages Prinzip Hoffnung.
P.S. Ein persönliches Geständnis noch: „Der junge Karl Marx“ ist in der fertigen Fassung besser, bildmächtiger geworden, als frühe Drehbücher dieses jahrelang entwickelten Stoffs vermuten ließen. Es handelt sich zwar immer noch um eine französisch dominierte Produktion, die aber bis in kleinste Nebenrollen von deutschem Personal getragen wird und die in Deutschland einen Koproduzenten, viel Fördergeld und einen TV-Sender gefunden hat.
Wenn Marx’ Geburtsort Trier im Mai nächsten Jahres der 200. Geburtstag seines zum Weltrevolutionär gewordenen Bürgers feiert, dann steht der Landessender SWR parat, den passenden Gedenktagsfilm in der ARD auszustrahlen.
Michael André
Bilder: © NEUE VISIONEN Filmverleih GmbH
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