Mit unbewegten Bildern Geschichte in Bewegung bringen
Jutta Brückners einzigartiger Fotofilm „Tue recht und scheue niemand“ liegt in einer restaurierten DVD-Fassung vor. Ebenfalls das filmische Komplementärstück „Hungerjahre – in einem reichen Land“ von 1980
Eine Stiege, die über schmale, ausgetretene Stufen ins nächste Geschoss führt. Ein Schwarzweißbild, das von Enge und Trostlosigkeit erzählt. Dazu spricht aus dem Off eine weibliche Erzählerstimme in rheinisch-bergischen Singsang vom Rückzug der vaterlos gewordenen Familie ins Exil eines Dachgeschosses. Scham bestimmt das Leben der jungen Gerda Siepenbrink. Zwei weitere Fotos zeigen unmittelbar danach ein karges Zimmer und eine primitive Herdstelle. Auch sie zeugen von materiellem Elend. Doch die Erzählung nimmt einen unvermuteten Verlauf. An die Stelle von Scham tritt ein unüberhörbarer Wille zu Selbstbehauptung, der in unverhohlenem Stolz und einem geflügelten Wort mündet: „Meine Mutter sagte immer: Bleib gern allein, halt dich wohl und rein, willst du geachtet sein.“ Passend dazu zeigt der Film ein Fassadenbild. Köpfe, die sich aus den Fenstern eines Mietshauses recken; Familien, die sich sittsam für den Fotografen vor dem Hauseingang aufgebaut haben.
Glanz und Elend des deutschen Kleinbürgerlebens sind in dieser kurzen Filmsequenz versammelt. Scham über die bescheidene eigene Lage, die für einen Moment zu Bewusstsein kommt und die im nächsten Moment übertüncht wird von Schichten von Stolz und Vorurteil. Stolz auf sich selbst zu sein, weil man sich nicht hängen lässt, nicht ins totale Elend abrutscht. Dabei gibt man acht auf sich, denn trotz gesellschaftlicher Isolierung gilt es, einen Rest von Würde und Anerkennung zu bewahren. Den inneren Zusammenhäng gegensätzlicher Regungen und Affekte anschaulich und sinnlich nachvollziehbar dargestellt zu haben, ist bleibender Verdienst eines mittlerweile 42 Jahre alten deutschen Films. Die Rede ist von Jutta Brückners Erstlingsfilm „Tue recht und scheue niemand“, der zusammen mit ihrem dritten Film „Hungerjahre“ (1980) als DVD in restaurierter Fassung erschienen ist. Ein Dokumentarfilm, der immer noch verblüfft. Nicht zuletzt, weil er das kaum glaubliche Los von Frauen der Erst-Weltkriegs-Generation dokumentiert.
Die nachhaltige Wirkung des Films hat mit der rückhaltlosen Selbstbefragung und minutiösen Rekonstruktion eines Frauenlebens zu tun. Sie hat aber auch mit der Form zu tun, die die Autorin 1975 für ihren Film gewählt hat. Jutta Brückner hat etwas Paradoxes gemacht. Um versteinerte Geschichte in Bewegung zu setzen, hat sie auf unbewegte Bilder gesetzt. Sie ist in die Bildarchive gegangen, hat die stummen Zeugnisse deutscher Alltags-Geschichte ausgegraben, hat sie sortiert, arrangiert und schließlich zu einem gut einstündigen Film montiert. Darüber liegt die Lebensbeichte ihrer Mutter als epischer langer Erzählstrom, untermalt und unterbrochen von Musikeinlagen und strukturiert durch Zwischentitel und ein paar erklärende Kommentare der unsichtbar bleibenden Autorin.
Ein Fotofilm in dieser Konsequenz war (und ist) eine Rarität. Er bedeutet den Verzicht auf jeglichen Versuch einer szenischen Rekonstruktion. Keine Schauspieler, die sich fremde Texte und Identitäten einverleiben; keine Kulissenlandschaften, die eine Vorstellung von dem vermitteln sollen, was sich in den dunklen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland abgespielt hat. Dahinter steht profundes Misstrauen, ob moderne Körper die jahrzehntealten Ablagerungen von Leben, Arbeit und Geschichte einfach so widergeben können. Das geht allenfalls über geduldige und aufwändige Schauspieler-Vorarbeiten eines Edgar Reitz (von „Heimat“ bis „Die andere Heimat“) oder eines Michael Haneke („Das weiße Band“). Nur über allmähliche Anverwandlung lässt sich die mentale wie physische Kluft zwischen Gestern und Heute schließen. Hier geht es, man ahnt es, um eine Authentizität, die sich nicht in Uniform-Kragenspiegeln und anderen Äußerlichkeiten erschöpft.
Auch die vielen Zeitzeugen, die später bei Geschichtsfilmen à la Guido Knopp eine so verhängnisvolle Rolle mit ihren sentimentalen Erinnerungen spielen sollten, bleiben bei Brückner stumm. Ihre Gesichter blicken uns frontal und neugierig an wie bei August Sander, dessen Archiv der Film unendlich viel schuldet. Aber die Menschen sprechen nicht noch nachträglich zu uns, suchen sich nicht zu rechtfertigen für das, was gesehen ist und doch nicht mehr zu ändern ist. Hier tritt mal nicht der bekannte vielstimmige Chor der Überlebenden auf. Stattdessen spricht aus der Distanz von Zeit und Raum nur die Erzählerin Gerda Siepenbrink. Diese Stimme ist – wie unschwer zu erraten ist – die der Mutter der Autorin. Die Spuren des Interviews sind im Film getilgt. Keine Fragen sind erhalten. Alles erscheint wie ein langer, sorgfältig geprobter Monolog.
Dabei ist die Rede der Mutter oft voller Selbstrechtfertigung. Nur selten äußert sie offene Selbstkritik. Ihre Bekenntnisse suchen immer wieder Halt in volkstümlichen Redewendungen und Sprichwörtern. So als könne frau sich durch diese Stelzen und Hülsen mehr Sicherheit verschaffen. Denn hinter allen Sätzen steht eine labile Persönlichkeit, die zeitlebens Angst vor der Angst hatte. Ihre kleine, große Leistung besteht darin, mit zunehmenden Alter ein Stück weit aus diesem inneren Tunnel herausgefunden zu haben. Determination ist doch nicht alles.
Das Aufregende daran ist nun, dass diese – bleiben wir bei ihrem Kunstnamen – Gerda Siepenbrink nicht als rundum sympathisch erscheint. Was sie bei ihrer Tochter verkorkst hat, darüber legt „Hungerjahre“ eindrucksvoll Zeugnis ab. In diesem filmischen Komplementärstück wechselt die Erzählperspektive und gleichzeitig auch die filmische Machart. In langen Einstellungen und Sequenzen wird in einer subjektiven Reflexion über das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter aus der bleiernen Zeit der 50er Jahre erzählt, wo eine Schwangerschaft für ein junges Mädchen noch eine persönliche wie familiäre Katastrophe bedeuten konnte.
Der Dritte im Bund dieser rheinischen Kleinfamilie, der Vater Georg, wird zwar häufig erwähnt, tritt auch mehrmals körperlich in Erscheinung, aber er bleibt völlig sprachlos. Sich sein Schicksal auszumalen, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Auch er wird sich mutmaßlich als ein Opfer sehen. Opfer einer angstbesetzten Frau, die ihn frühzeitig von seinen kommunistischen und sozialistischen Freunden getrennt hat, eines Weltkriegs, der ihn äußerlich intakt aber innerlich gebrochen hat zurückkehren lassen. Danach blieb nur noch die Kraft zu einem halbwegs auskömmlichen Leben, Erwerb eines Eigenheims und Urlaubsreisen eingeschlossen. All das immer nur unter dem energischen Antrieb seiner Frau.
Allen Fans von neuen Found-Footage-Filmen sei gesagt: „Tue recht und scheue niemand“ ist kein reiner Archivfilm. Je weiter der Film fortschreitet, desto mehr gewinnt die Mutter auch an Gestalt. Das allmähliche Erwachen der Gerda Siepenbrink in der Nachkriegszeit spiegelt sich in diesem Kunstgriff. Die zunächst beinahe geisterhafte Stimme lässt sich mit wachsender Gewissheit einer bestimmten Person zuordnen. Ob daheim in der Küche, bei der Arbeit im Kaufhaus oder später in der Bibliothek des Deutschen Gewerkschaftsbundes – überall erleben wir eine kleine, grauhaarige Frau, die hinter resolutem Auftreten ihre inneren Dämonen in Schach hält und deren übergroße Liebe und Hoffnung dem einzigen Kind gilt. Zeichen einer unauflöslichen Mutter-Tochter-Bindung scheinen auf. Ein deutsches, nicht nur deutsches Familienschicksal.
Michael André
Bild: © Jutta Brückner | absolut Medien
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DVD: absolut Medien
TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND
Dokumentarfilm von Jutta Brückner, 1975, s/w, 65 Minuten
HUNGERJAHRE
Spielfilm von Jutta Brückner, 1980, s/w, 114 Minuten
MEHR INFORMATIONEN: absolut Medien
Reichhaltige PDF Materialien:
Doris Dörrie über HUNGERJAHRE
Gespräch mit Jutta Brückner von Erika Gregor (1980)
Gespräch mit Jutta Brückner von Gerburg Treusch-Dieter über HUNGERJAHRE
Jury der evangelischen Filmarbeit – Film des Monats, Juni 1980
Jutta Brückner über HUNGERJAHRE
Jutta Brückner: Vom Singen im Wald bei Regen
Gespräch mit Jutta Brückner von Erika Richter (1997)
Karola Gramann, Heide Schlüpmann: Hungerjahre
TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND von Jutta Brückner
Gespräch Jutta Brückner mit Gerburg Treusch-Dieter über TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND
Über autobiografisches Filmemachen von Jutta Brückner
- Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert - 4. November 2019
- Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte - 19. September 2019
- Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert - 1. August 2019
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