Zurück in die Arme des Vaters
„Toni Erdmann“ oder wie ein Vater aus der deutschen Provinz mit peinlich- komischen Mitteln um die Zuneigung seiner zur coolen Businessfrau gewordenen Tochter kämpft. Dabei geht das neoliberale Leben weiter und erscheint in Maren Ades todtraurigem Film alternativlos. Versuch einer Begründung für den seltenen Erfolg eines deutschen Films bei Publikum wie Kritik
Eine lange Einstellung auf eine unscheinbare Haustür, die Kamera bleibt während der nachfolgenden Szene nahezu unbeweglich: Ein Paketbote klingelt und wieder vergeht Zeit, bis ein struppiger Mann im Türrahmen erscheint. Der einfache – im Zeitalter des Online-Handels zur Gewohnheit gewordene – Akt der Paketannahme gestaltet sich in diesem Fall schwierig. Der Empfänger behauptet, gar nicht der Empfänger zu sein. Er textet den Boten mit wilden Vermutungen zu und mutmaßt schließlich, sein Bruder habe die Bestellung aufgegeben. Was folgt, ist Teil zwei der Eröffnungssequenz. Der Mann verschwindet, lässt den Boten warten und wir werden Ohrenzeugen eines lebhaften Disputs zwischen den Brüdern. Schließlich erscheint ein mit Hornbrille und grotesk heraushängenden Zähnen verunstalteter Mann an der Tür, der vorgibt, der Bruder zu sein und nimmt dem armen Boten endlich das vermaledeite Paket ab.
Hier, also in der ersten Szene des Maren-Ade-Films „Toni Erdmann“, stellt sich das Gefühl des Fremdschämens und der peinlich-komischen Berührtheit des Zuschauers zum ersten Mal ein. Und dieses Gefühl wird uns nicht mehr verlassen.
Natürlich sind Winfried (Peter Simonischek) und sein namenloser Bruder ein und dieselbe Figur. Der pensionierte Lehrer ist ein Scherzkeks, der die Maskerade und die Verkleidung liebt, der zwischen Wahrheit und Lüge changiert. Noch im Prolog werden wir auf diesen Wesenszug eingestimmt. Der alleinstehende, mutmaßlich geschiedene Mann erscheint mit wilder Kriegsbemalung und behauptet wiederholt, einen Nebenjob als Unterhalter in einem Altenstift angenommen zu haben. In Wahrheit dirigiert er eine Schulklasse zum Abschlussfest auf die Bühne der Aula. Auch nicht viel besser.
Die Mittel der Verstellung und der Lügenmärchen wird Winfried in dem 162 Minuten langen Film beibehalten – mit kleinen Unterbrechungen und einem großen Bruch. Zunächst läuft das Schauspiel weitgehend Ich-bezogen. Es hilft dem alternden Mann, die innere Leere und seine Langeweile zu überspielen. Der Mann wuchert buchstäblich zu. Nicht nur im Gesicht, auch das Haupthaar, und sein Haus ist mit den im Lauf eines Menschenlebens erworbenen Dingen völlig zugestellt. Der Garten ist ein Bambus-Urwald und im Dialog erfahren wir, dass die Nachbarn auf eigene Faust die Grenzhecke schneiden werden, weil keine Sonne mehr in ihren Garten kommt. Nach dem Auszug der Ehefrau ist ein altersmüder Hund der einzige Mitbewohner. Es ist herzzerreißend zu erleben, wie das Tier über Nacht im Garten still weggedämmert ist. In böser Ahnung dessen, was da kommt, hatte sich sein Herrchen samt Matratze im Garten gebettet.
Zielgerichtet wird das Spiel der kleinen und großen Maskeraden erst über die Begegnung mit Tochter Ines (Sandra Hüller), die in jeder Beziehung das Gegenteil von Winfried ist. Hier der Bär, dort eine zarte Person. Hier der Musiklehrer im Ruhestand, dort eine im fernen Bukarest agierende Unternehmensberaterin, kühl bis ans Herz. Hier liegt mehr als ein Generationenabstand vor, hier ist ein Mentalitätssprung zu konstatieren. Der Geburtstag von Ines, eigentlich Anlass für ihre Reise nach Aachen, fällt weitgehend flach – wegen lauter Telefonaten. Das Gespräch mit dem Vater könne man doch über Skype nachholen, bescheidet Ines den enttäuschten Winfried, der auch noch als ein Analphabet des Digitalen Zeitalters geschildert wird.
Was folgt, ist – freundlich gesprochen – Winfrieds Suche nach dem Herz und der Zuneigung der verlorenen Tochter. Weniger freundlich ausgedrückt, spielt sich in Rumänien eine Art Stalking ab. Der Vater, in verknittertem Freizeithemd und mit Jutebeutel, wird zu einem leibhaftigen, unaufhörlichen Alptraum für die Tochter, die sich in einer kleinen Community westlicher Investoren und Glücksjäger bewegt. Ihr sozialer Alltag sind Businessmeetings, Champagnerempfänge, Wellnessoasen, Shoppingmalls. Sie lebt weitgehend abgeschirmt von der Wirklichkeit eines verelendeten osteuropäischen Staats in einem scheinrealen Stützpunkt des neoliberalen Finanzkapitalismus.
Der Film bezieht einen Gutteil seines Witzes und seiner Komik vom Einbruch eines Außenseiters in eine geschlossene Welt. Und es ist keine Frage, dass bei dieser Konfrontation alle Sympathien des Films bei dem leicht abgerissenen Alten aus Deutschland liegen. Ihm fliegen die Herzen der Zuschauer zu. Nicht umsonst trägt der Film seinen nom de guerre Toni Erdmann.
Winfried wird zwar nach kurzer Zeit als unerwünschter Eindringling von der dauergestressten Tochter weggeschickt, doch natürlich lässt sich ein Mann wie er nicht wie ein Hund vom Hof verjagen, sondern kehrt mit neuem Namen und Verkleidung zurück ins Leben der Tochter. Er war nie fort, er setzt seinen Kampf nur mit noch skurrileren Methoden und abenteuerlicheren Geschichten fort. Die präzise Schauspielerführung Maren Ades, die aus den beiden Stars viel herausholt, trägt dazu bei, einzelne Szenen zu kleinen Preziosen werden zu lassen. Drehbucheinfälle – offenbar hat die halbe „Berliner Schule“ mitgearbeitet – wie der pervers mit einem Petit Four beendete Beischlaf von Ines mit ihrem deutschen Kollegen und Lover – sind ein Erlebnis.
Der Vater macht sich bei seinen Erdmann-Auftritten zur lächerlichen Figur, der in den Augen des Zuschauers auch die Tochter lachhaft aussehen lässt. Wieder stellt sich Fremdschämen ein, wieder Peinlichkeit. Dieses Gefühl mag auch nicht vergehen, wenn man begreift, dass Ade Peinliches bewusst als Stilmittel einsetzt, um eine bruchlose Identifikation mit den Figuren zu vermeiden. Der Höhepunkt in dieser Kette von Fremdscham-Erlebnissen ist erreicht, wenn Ines eine spontane Party in ihrem Appartement ausrichtet. Zur besseren Teambindung, wie ihr deutscher Chef es in Manager-Neusprech formuliert hat. Die kleine Party läuft völlig aus dem Ruder, wird zu einer schrecklich verkrampften Nacktparty. Die Reichen & Schönen, zur Natürlichkeit entblößt. Höhe- und Endpunkt dieser Veranstaltung ist der unangemeldete Auftritt von Toni Erdmann, der sich seinerseits entstellt hat bis zur Unkenntlichkeit im Kostüm eines überdimensionalen bulgarischen Zotteltiers.
Die Schöne (Tochter) und das Biest (Vater) begehen dann in aller Öffentlichkeit eines Bukarester Platzes Versöhnung, wenn die leichtbekleidete Ines dem Pelztier (Toni) um den Hals fällt. Der Vater hat den Kampf um die Tochter in diesem Moment gewonnen, um den Preis, dass sie wieder ein kleines Mädchen geworden ist.
Winfrieds eigene Erniedrigung vollzieht sich unter dem Schutz einer Ganzkörpermaske. Einzig die Rezeptionistin in seinem Hotel wird Zeugin, wer sich unter dem Pelzkleid verbirgt und mühevoll zu sich selbst zurückfindet. Tochter Ines erscheint in dieser Szene viel ungeschützter und gibt viel mehr von sich preis. Diese Kommunion von Vater und Tochter ist zugleich aber auch eine Wegweisung zum Verständnis des deutschen Films. Wie sagte Untergrundregisseur Klaus Lemke unlängst in einem Interview: „Der deutsche Film ist gelähmt wie Hamlet. Durch das untergründige Einverständnis mit dem Vater“.
Anders als Lemke von den jungen Kollegen bösartig vermutet, ist für eine Regisseurin wie Maren Ade nicht nach zwei Filmen Schluss gewesen. Sie hat ihr Pulver noch nicht verschossen. Festzuhalten bleibt, dass „Toni Erdmann“ ihr bislang weitaus erfolgreichster Film ist. Erst die sensationelle Einladung ins offizielle Programm von Cannes, dort stürmisch gefeiert, zur Wut und Enttäuschung der deutschen Filmdelegation aber bis auf den wenig glamourösen Fipresci-Preis leer ausgegangen. Dafür war der Film bei seinem Deutschland-Start nach der ersten Woche die Nummer eins in den Arthouse-Charts und ist bereits in rund 60 Länder verkauft. Woher rührt diese in Deutschland seltene Übereinstimmung von Kritik-Begeisterung und Publikums-Geschmack?
Vielleicht aus dem übermächtigen Vater-Thema? Das einen letzten Triumph feiert, wenn sich Vater und Tochter auf altem Terrain in Aachen beim Begräbnis von Ines’ Großmutter wiedersehen. Ines erweist bei aller Sprödigkeit als Vaters Kind, wenn sie sich im vorletzten Bild des Films eine Kappe aus dem Nachlass der Großmutter aufstülpt und falsche Zähne aufsetzt. Eine komische Wiedergängerin des Vaters. Erst im Schlussbild erscheint sie dann wieder als die altvertraute Ines. Stockseriös. Ein schöner, ambivalenter Schluss, der alle möglichen Deutungsräume öffnet.
Wie überhaupt der Film eine undramatische Dramatik pflegt. Das Erlebnis Bukarest hat weder das Leben von Vater noch das der Tochter radikal geändert. Er ist zurück in der Provinz, ist nicht etwa auf seine alten Tage zum Weltrevoluzzer geworden. Sie hat zwar den Arbeitgeber gewechselt, ist aber weiter in der übel beleumdeten Beraterbranche tätig. Jetzt bei McKinsey und noch dazu im Finanz-Hotspot Singapur. Das coole Leben geht weiter, ist offenbar alternativlos. Klingt nach Merkel und nach herrschender Politik.
Hier kann man Marion Ades Regie-Kollegen Christoph Hochhäusler, der in seinem Blog aufsehenerregende Kritik an einem sonst verdächtig einhellig gelobten Film geäußert hat, Recht geben, allerdings nur zum Teil. Denn zu den Erkennungsmerkmalen des deutschen Films gehört positiv auch, dass er keine verlogenen Brachial-Happyends à la Hollywood pflegt.
Gegen einen anderen Vorwurf ist Ade sogar ausdrücklich in Schutz zu nehmen. Sie wagt sich in die rumänische Peripherie vor, lässt Ines und Toni zu einer Inspektionsreise auf die Erdölfelder fahren. Dort erleben sie archaische Lebensverhältnisse und veraltete Arbeitsmethoden, die allesamt dem Untergang geweiht sind. Sei es durch Outsourcing, Entlassung oder Verlust der Lebensgrundlage. Hochhäusler wirft Ade deshalb vor, im Primitiven der Provinz das Eigentliche zu entdecken und gegen das Uneigentliche des Investorenlebens auszuspielen. Das stimmt so nicht, weil diese Szene eine ganz andere Funktion hat. Hier wird Winfried alias Toni gleich mehrfach beschämt. Erst führt seine Leutseligkeit zur Entlassung eines Arbeiters, der gegen die Sicherheitsvorschriften verstoßen hat; dann will er sich in typischer Touristenmanier mit einem satten Trinkgeld für die Toilettenbenutzung bedanken, hat aber nicht mit dem Stolz des bettelarmen rumänischen Hausbesitzers gerechnet, schließlich reibt ihm seine Tochter mangelndes Verständnis in kapitalistische Gesetze unter die Nase. Da ist Toni Erdmann ganz still und beschämt.
Anders als Hochhäusler, der sich bei seinem thematisch verwandten Film „Unter Dir die Stadt“ (2011) kein einziges Mal in die Außenwelt der Dritten Welt vorgewagt hat, unternimmt Ade den Lackmus-Test des Welt und Gesellschaft erzählenden Films. Sie geht über das Familiendrama hinaus. Bei Hochhäusler bleiben verbrecherische Vorgänge in Indonesien immer nur ein fernes Zitat und Echo, bei Ade drängt triste Wirklichkeit prall und nachhaltig herein. Komplexität und Konventionalität, gepaart mit Bilderreichtum und Schauspielerleistungen sind wohl die ausschlaggebenden Gründe für die Cannes-Einladung und den Kinoerfolg. Selbst wenn wir uns beschämt fühlen, können wir uns aber auch selbst wiedererkennen. Ein im Grund todtrauriger Film, der seine Bitternis mit komischen Elementen versüßt. Wer „Toni Erdmann“ als deutsche Komödie anspricht, wird dem Film nicht gerecht und hat wenig verstanden.
Michael André
Bild oben: © Komplizen Film | Toni Erdmann, von Maren Ade (Deutschland 2016)
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