Eine Fallstudie anhand von zwei Filmen und zwei Figuren: „Allein“ und „Aufforderung zum Tanz“ – Hier Lavinia Wilsons Maria und dort Marius Müller-Westernhagen als Theo – Aus Anlass eines Filmfestivals im Grimme-Institut
Zugegeben, der erste Anruf war irritierend. Das Grimme-Institut wollte einen von mir betreuten, sechs Jahre alten WDR-Debütfilm über eine an Borderline erkrankte junge Frau im Rahmen seines Festivals „Tour de Ruhr“ (26.10. bis 30.10.2010) in Marl zeigen, allein als typischen Ruhrgebiets-Film in die lange Fernseh-Traditionsreihe von „Rote Fahnen sieht man besser“ (1971) über „Die Pawlaks“ (1982), „Rote Erde“ (1983), dem Götz-George-Tatort „Moltke“ (1988) stellen. Auf diese Idee wäre ich kaum gekommen. Zwar hat Regisseur Thomas Durchschlag seinen ersten Langfilm ausschließlich in Essen gedreht, aber ist ein Persönlichkeits-Drama um eine Studentin, die sich selbst verstümmelt und mit dieser masochistischen Geste stumm nach Hilfe schreit, deswegen schon ein Ruhrgebietsfilm? Aber die Begeisterung von Grimme-Institutsleiter Uwe Kammann für den auch in Marl ausgezeichneten Film ließ mich schließlich Gefallen finden an einer Festival-Vorführung und -Diskussionsveranstaltung von „Allein“.
Immerhin ist in „Allein“ das Ruhrgebiet der Gegenwart, das postindustrielle Revier, mit einem seiner neuen ikonographischen Orte zentral vertreten. Richard Serras Bramme-Kunstwerk, dieser 14,5 m hohe und 67 Tonnen schwere Stahl-Monolith, ist das geheime dramatische Zentrum des Films. Die Bramme auf der Schurenbachhalde in Altenessen ist für die psychisch kranke Protagonistin Maria alles: Sehnsuchtsort, Fluchtpunkt, nächtlicher Liebestreff, Freilicht-Meditationszentrum. Das im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark 1998 kunstvoll arrangierte Plateau der Halde ist eine wüste Fläche. Nur fern am Horizont zeigen sich – von langen Kameraeinstellungen und langsamen Schwenks noch einmal unterstrichen – ein paar monumentale Bauten des Industrie-Zeitalters. Ansonsten bietet der Blick Richtung Süden, also ins klassische Revier, viel grüne, scheinbar unbelebte Siedlungslandschaft. Der Film ist, wenn er nicht in Marias Wohnung spielt und zum Kammerspiel wird, eine Parabel aufs Ruhrgebiet der Gegenwart. Das alte industrielle Herz Deutschlands erscheint leer geräumt. Die Protagonistin Maria benimmt sich wie eine Fremde in ihrem Selbst-Sein. Mal ist sie hektisch, dann wieder apathisch. Borderline, das viel beredete Psychosyndrom, lässt sich über diesen Film nicht nur als endogene Krankheit begreifen sondern als psychosozialer Reflex einer zunehmend pathologischen Gesellschaft. Der Über-Lebenswille dieser Maria kontrastiert mit immer wiederkehrenden Suizid-Schüben. Mal überfordert sie sich, dann wieder nisten Überdruss und Verzweiflung in ihr, und sie will einfach nur noch Schluss machen.
Zeitsprung zurück: Der Unterschied zu einer berühmten Ruhrgebiets-Filmfigur, zu Theo in Peter F. Bringmanns Fernsehfilm „Aufforderung zum Tanz“ von 1977 springt ins Auge. Ein Klassiker, der bei Grimmes Kultstatus hat, dieses Mal aber leider nicht im Programm war. Wo der Trucker Theo – eine Figur mit der Marius Müller-Westernhagen später noch einen großen Kinoerfolg erzielen sollte – ein moderner Taugenichts ist, der einen Nackenschlag nach dem anderen wegsteckt, da schwankt Maria (Lavinia Wilson) haltlos zwischen Depression und Euphorie. Auffällig ist der Optimismus, den die Figuren in Matthias Seeligs „Theo“-Buch versprühen. Sie handeln – privat und ohne jeden politischen Anspruch – nach dem paradoxen alt68er-Maxime: „Du hast keine Chance, aber nutze sie.“ Geld wird – in der Hoffnung auf den großen Reibach – verzockt und am nächsten Morgen tut sich wundersam eine neue Quelle auf. Ein Leben auf Pump. Für Katzenjammer bleibt da nicht lange Zeit. Und der Traum vom eigenen LKW, von der großen Freiheit hinterm Lenkrad geht zu guter Letzt doch noch irgendwie in Erfüllung.
Und die Studentin Maria in „Allein“? Hasst sich selbst, schlitzt sich heimlich im Bad mit einer Rasierklinge, weil sie durch Übereifer und allzu aggressive Sex-Anbahnung den neuen Freund nachhaltig verschreckt hat. Sie unternimmt einen Selbstmordversuch mit einem gestohlenen Taxi und entschuldigt sich beim fassungslosen Freund: „Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Sagt sie und in finaler Erinnerung bleibt ihr blutverkrustetes Gesicht hoch oben an der rostigen Bramme.
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„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“
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Der kategoriale Wandel, den Sexualität innerhalb weniger Jahrzehnte erlebt hat, lässt sich über einen Vergleich beider Filme schön ablesen. Theo lernt auf einem Rummel eine betörend schöne Friseuse (die junge Gudrun Landgrebe) kennen, die ihn kirre macht mit der stolzen Ankündigung, sie sei am ganzen Körper rasiert. Das zu einer Zeit, da Intimrasuren noch ein Privileg anrüchiger Frauen – vulgo Huren – waren. In einer großartigen Ellipse wird der Beginn der Liebesnacht im Auto gezeigt und im nächsten Moment steht das Auto im idyllischen Morgenlicht da. Es müssen – nur diesen Schluss lässt diese Montage zu – glückliche Stunden gewesen sein. Die Studentin Maria treibt es in der ersten Sequenz von „Allein“ mit einem deutlich älteren Mann, verbindet ihm die Augen, kommandiert ihn – sadomasochistische Rituale werden dezent angedeutet. Doch der sexuelle Höhepunkt bringt nur Selbstekel und schroffen Hass auf den anderen. Beide Protagonisten – Theo und Maria – sind sexuell aktiv, doch mit krass unterschiedlichen Ergebnissen. Theo ist ein typisches Kind der sexuellen Befreiung, für den Treue ein Fremdwort ist und an den die Frauen auch keine Bindungs-Ansprüche stellen. Maria hat Sex aus Langeweile, will sich spüren und erfahren und bleibt am Ende doch unbefriedigt. Ihr Verlangen geht in der romantischen Beziehung zum Mit-Studenten Jan mehr auf Kuscheln denn auf Klimax. Sexualität konnotiert in „Allein“ meist Kälte und Enttäuschung.
Das Ruhrgebiet in „Aufforderung zum Tanz“ ist schäbig und abgeschrammt. Theos Aushilfsjob auf dem Bundesbahn-Stückgutbahnhof in Wanne-Eickel ist Knochenarbeit, bringt aber auch widersprüchliche Erfahrungen von Kameradschaft und Verrat. Der Film hält aufregende Nachrichten aus einer längst versunkenen Arbeitswelt bereit, wenn Frachtkisten in Handarbeit nur mit Hilfe von primitiven Sackkarren von einem Bahnsteig und Waggon zum anderen transportiert werden. Goldig sind diese Zeiten nicht, aber sie sind spannend und abwechslungsreich. An jeder Ecke, in jeder Kneipe ein unverwechselbarer Typ, Gauner und Hochstapler eingeschlossen. Und fast alle haben ein großes und weites Herz. Die Unaufgeräumtheit der proletarischen Umgebung mit der Herner Zeche Pluto und den Hochöfen des Schalker Vereins als großer Industriekulisse birgt offensichtlich weniger Gefahr denn grenzenloses Versprechen. Damals muss auch der Zeitpunkt gewesen sein, als sich der bis heute unbeirrbare Glauben in vielen Köpfen festsetzte, das Ruhrgebiet sei eine große Fundgrube für Komödienstoffe und -Figuren. In jeder Straße von – sagen wir mal Essen-Stoppenberg – wohnt ein „Ekel Alfred“ und wartet darauf entdeckt zu werden. Eine in der Regel vergebliche Hoffnung.
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Das Ruhrgebiet in „Aufforderung zum Tanz“ ist schäbig und abgeschrammt.
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„Allein“ spielt in mittlerweile schon naher Vergangenheit und zeigt ein komplett anderes Bild: Das Ruhrgebiet ist gepflegt, saniert, grün – und öde. Auf Schnellstraßen fließt anonymer Verkehr, auf dem Campus flanieren die Studenten. In der Bibliothek sortiert und stapelt Maria als Aushilfsjobberin tote Bücher. Das einzige, was dieser Ort an möglicher Erfahrung bereithält, ist die Anbahnung von Bekanntschaften: Der Chef, der abblitzt, der neue Student Jan, der rührend unbeholfen wirkt und erhört wird. Der Alltag des Ruhrgebiets dringt an Maria nur ausschnittweise und stark gefiltert. Sie interessiert sich auch nicht dafür. Sie will lieber an die holländische Küste. Sie fährt übers Wochenende mit Jan ans Meer, besucht eine Kirche und schwelgt in romantischen Klein-Mädchen-Träumen. Typisch für ihre Haltung ist gleich zu Beginn des Films die Fahrt in der Straßenbahn. Draußen zieht eine zersiedelte Essener Vorort-Landschaft gleichförmig vorbei. Vor der Fensterscheibe sitzt Maria: Keine Regung in ihrem Gesicht verrät, ob sie weiß, wo sie gerade ist. Die Extrovertiertheit eines Theo wird von der Introspektion einer Maria abgelöst. Sie lebt in einer Großstadt, doch ihr Kosmos ist klein, winzig klein. Eine verständnisvolle studentische Freundin, ein übergriffiger Chef in der Bibliothek, ein älterer Liebhaber, der keinen Namen zu haben scheint und immer nur „Typ“ genannt wird. Dazu einige, abgelegte One-Night-Stands und natürlich der neue Freund Jan als Lichtgestalt inmitten von Tristesse. Ein angehender Veterinär, selbst ein Fremder im Ruhrgebiet, wie Maximilian Brückners bayerischer Akzent unschwer erkennen lässt.
Maria ist ein Bündel ausgewachsener psychischer Störungen und eigentlich ein Fall für einen Therapeuten, Analytiker etc. Doch moderne Seelenarbeiter treten in „Allein“ nicht auf. Zum Glück, möchte man sagen. Sonst wäre der medizinische Verweischarakter des Films doch gar zu aufdringlich. Diese Funktion erfüllen andere Filme. Die typische zentrale Mittlerfigur moderner Fernseh-Spielfilme ist ein Psychologe vom Schlage Bloch aus der gleichnamigen Fernsehreihe. Dieter Pfaff erscheint als der fleischgewordene Vertreter dieses Berufsstandes, der versucht zu reparieren, was einer allein gar nicht mehr reparieren kann: Eine Gesellschaft, die tief in ihrem Innerem depressiv geworden ist, bedarf der Radikalkur, die den Einzelnen natürlich hoffnungslos überfordern würde.
Wenn es noch eines aktuellen Beweises bedurft hätte, wie sehr diese Gesellschaft an sich selbst leidet, dann liefert ihn der durchschnittliche deutsche Krankenstandswert. Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen hat anhand der Daten von 5,6 Millionen Beschäftigten herausgefunden, dass die Versicherten inzwischen doppelt so häufig an psychischen Schäden erkranken wie noch vor 20 Jahren und sich deshalb aus dem Job ausklinken. Eins lässt sich unschwer sagen: Zu Theos Zeiten sah diese Statistik anders aus.
Text: Michael André
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