Nur einen Lieblingsfilm zu haben, ist für mich so beschränkend wie das Gebot der lebenslangen Monogamie. Ich habe mehrere und sie sind so unterschiedlich wie Andrej Tarkowkis „Der Spiegel“, Jean Renoirs „Die Spielregel“ und „Padre Padrone“ der Brüder Taviani. Diesen letzten würde man heute einen Film über Integration nennen. Er erzählt die Geschichte des sardischen Jungen Gavino Ledda, der von seinem Vater als Erstklässler aus der Schule genommen wird, um ganz allein hoch oben in den Bergen die Schafe zu hüten. Es ist eine Kindheit in der Einsamkeit, sprachlos, voll von Schlägen und Angst in einer Gesellschaft der Blutrache und Sodomie. Als der fast analphabetische Gavino erwachsen ist, folgt die Zurichtung in der italienischen Armee, wo niemand seinen sardischen Dialekt versteht. Aber bevor er auch hier in Einsamkeit versinkt, findet er einen Freund, der ihn dazu bringt, das italienische Wörterbuch auswendig zu lernen, von den Worten für Fahne und Vaterland bis zu denen für sein eigenes Schicksal: Padre/Padrone/Patriarcho, der Vater, der als Herr über seine Familie bestimmt und sie benutzt, als sei sie sein Eigentum. Am Ende dieser Befreiung zur Welt durch Sprache steht der Zweikampf mit diesem Vater. Ohne die Erfüllung des archaischen Gesetzes, dass der junge Mann den alten besiegen muss, hätte Gavino nicht begriffen, dass er weggehen muss, um nicht so zu werden wie der Vater. Für ein neues und anderes Leben reicht es nicht, den Herrscher zu stürzen, wenn dessen inneres Bild überlebt und die dem Körper eingeschriebenen Gewalterfahrungen. Gavino, schließlich Professor für Linguistik, sitzt im letzten Bild so da wie als kleiner, verlassener Junge: langsam und wie autistisch bewegt sich der Körper vor und zurück. Der Film erzählt diese Geschichte bar jeder seifigen Melodramatik, unsentimental, in schönen, ruhigen Bildern, die doch sind wie langsame Peitschenschläge: der Knall kommt, wenn man es schon nicht mehr erwartet. In den 1980er Jahren interessierte sich das Kino, das heute Oberflächen abtastet, für solche Abgründe und wusste, dass es sich ihnen nicht mit der filmischen Standardsprache nähern kann. In diesem Film, der so um die Sprache kreist, führen die Wörter und die Töne ein Eigenleben, Tiere sprechen und die Stille dröhnt wie im Innern einer Glocke. Die zentrale Sequenz zeigt eine Prozession. Zum quäkenden dissonanten Prozessionsgesang schleppt eine Gruppe von jungen Männern, verborgen unter einem Tuch, eine Holztrage mit der überlebensgroßen Figur der Jungfrau Maria. Es sind sardische Hirtenknechte, sie werden gehalten wie Sklaven und ihre größte Hoffnung ist es, wegzugehen als Gastarbeiter in das Paradies, nach Deutschland! Über die kargen sardischen Hügel dröhnt plötzlich das deutsche Trinklied: „Trink, trink, Brüderlein trink“ und auf der Trage hat sich an die Stelle der Marienstatue der Vater von Gavino geschoben, der Padre/Padrone. Eine heilige, unbefleckte Jungfrau und ein grausamer Vater, die beiden Figuren des archaischen Patriarchats im Himmel und auf der Erde! Hier sah ich, ins Bild gebannt, auch die Machtverhältnisse in meinem eigenen Land, diesem „Paradies“, die aber schon so diffus geworden waren, dass der Zorn keinen wirklichen Adressaten mehr fand. Padre/Padrone hat eine einmalige Form gefunden, Gavinos Geschichte als eine kollektive Wahrheit zu erzählen. Als der Vater seinen kleinen Sohn aus der Schule holt und die anderen Kinder spöttisch lachen über dessen Angst, schreit er sie an: „Heute ist es Gavino, morgen seid Ihr es.“ Sie wissen das und doch versucht jeder einzelne, sich zu überreden, dass es ihn nicht treffen wird. Dass die Unterdrückten nur selten solidarisch sind, auch von dieser Wahrheit spricht der Film, aber er tut es voll Verständnis und mit der Sprache der Sehnsucht.
Jutta Brückner
Padre Padrone – Mein Vater, mein Herr
Paolo Taviani,Vittorio Taviani, Italien 1977
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