Am Ende hängt Anne (Elina Löwensohn) an der Hand von Steven (Jude Law) hoch über dem Londoner Straßenpflaster. Ein Liebes- und Schicksalspaar kämpft um sich und gegeneinander: Er ist ein Vampir und kann nur mit ihrem Blut überleben, sie dagegen will sich eben darum das Leben nehmen. Um seinem Griff zu entgehen, rammt sie ihm schließlich ein zur Haarnadel umfunktioniertes Eßstäbchen in die Handfläche.
Der Vampir trägt Stigmata, die Wundmale Jesu. Beigebracht von seiner einzigen großen Liebe. In dieser schweren Metaphorik spiegelt sich sowohl das Dilemma von Po-Chih Leongs Die Weisheit der Krokodile als auch der Weg, den dieser Film zur Lösung eingeschlagen hat.
Wie könnte heute ein Vampirfilm aussehen, der von sich behaupten dürfte, diesem uralten Subgenre etwas Neues hinzugefügt zu haben? Die Antwort von Die Weisheit der Krokodile besteht in einer Mischung aus Vampir-Mystik und einer Krimi-Struktur, die an dieArbeit des Drehbuchautors Jimmy McGovern („Für alle Fälle Fitz“) erinnert. Während Inspector Healy (Timothy Spall) mit gelassener Sorgfalt die seltsamen Todesfälle im Umfeld des jungen Arztes Steven Griscz („Das ist bulgarisch“) untersucht, lernt dieser die Ingenieurin Anne Levels kennen, die sein Schicksal werden wird: „Ich werde sterben. Ich brauche Blut, ich brauche die Liebe in deinem Blut.“ Obwohl und gerade weil Anne die erste Frau in Stevens Leben ist, die ihn „wirklich liebt“ (und ihn darum erlösen kann), zögert er, sie zu seinem nächsten und letzten Opfer zu machen.
So ist das Ziel, ein neues Vampirbild zu entwerfen, hier wie so oft mit der noch wesentlich schwierigeren Aufgabe verbunden, Liebe zu bebildern. Für beides entwickelt Die Weisheit der Krokodile nach und nach immer größere, mächtigere Symbole, die dem lakonischeren Krimi-Anteil um Timothy Spall als Inspektor Healy schließlich die Luft abdrücken. Als Vampir lebt Steven nicht von Blut allein, sondern von den darin gespeicherten Gefühlen, mit denen er nachträglich seine romantischen Opferkarteien betitelt. „Verzweiflung“ hatte sein letztes Opfer geheißen. „Leidenschaft“ soll nach ihrem Tod neben Annes Namen stehen. Dunkelgrün, matt und irgendwo zwischen Antiquität und metallener Einbauküche angesiedelt – so sieht die Welt dieses urbanen Vampirs aus, rein äußerlich gar nicht so weil von Gattaca, entfernt, in dem Jude Law erst kürzlich aufgetreten ist. In dieser Welt herrschen Schmerz und Unsterblichkeit als die ewigen emotionalen Bindeglieder zwischen der Vampir-Legende und dem Ideal der Liebe. Ein Melodram der Männlichkeit. Nach jedem Biß würgt Steven unter Krämpfen ein Kristall gewordenes Konzentrat der Empfindungen seines Opfers hervor, eine Art Emotions-Gallenstein und ein neues Bild für Mitleid.
Die Bewegung dieses ambitionierten Projekts führt wie eine Spirale nach oben. Sie strebt „dem Bild“ zu, dem einen, das keine Vergleiche und keine Erklärungen mehr nötig hat, nichts neben sich duldet und damit zugleich das Drama von Anne und Steven – niemals zueinanderpassen zu können – auf die unterschiedlichen Elemente des Films überträgt. Auf dem Weg zu einer allgewaltigen Symbolik, in der sich Schmerz und Unsterblichkeit vereinen, verläßt sich Die Weisheit der Krokodile dann auch längst nicht mehr auf die Glaubwürdigkeit der Hauptdarsteller Elina Löwensohn und Jude Law. Die Akteure sind eher Katalysatoren einer Bewegung des Pathos, die am Ende fast zwangsläufig zu den Stigmata in Stevens Handflächen führt. Sein Ziel kann dieser Weg nur im Religiösen finden: bei einer gewendeten Jesusfigur, in deren Passionsgeschichte Frauen den Spiegel des Schmerzes bilden dürfen.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 05/ 99
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