Wenn man aus einem beeindruckenden Film wie Das Versprechen kommt und die Suche nach den Worten für eine Erklärung oder gar Beschreibung beginnt, landet man immer wieder auch bei dem, was Kino überhaupt auszeichnet. Etwa bei der Geschlossenheit von Raum und Zeit: Für eine bestimmte Dauer werden wir an einem festgesetzten Ort in etwas hineingezogen, aus dem es – solange der Film läuft – keinen rechten Ausbruch gibt. Diese Hermetik auf Form und Geschichte des Films zu übertragen und dort hinein z.B. Fragen der Existenz, Liebe oder Identität zu stellen, macht eine spezielle und seltene Kraft des Kinos aus. Einige Filme von Ingmar Bergman entwickeln diese Kraft; und eines der schönsten Beispiele des US-Kinos der letzten Jahre war Paul Schraders Der Gejagte.
Die Geschlossenheit von Das Versprechen, Sean Penns drittem Film als Regisseur, ist die des Polizisten Jerry Black, der von Jack Nicholson gespielt wird. Mit ihm beginnt und endet Das Versprechen in fast der gleichen Einstellung – der Kreis schließt sich mit einem ins Nichts murmelnden Nicholson, und dazwischen steht seine Geschichte. Jerry Blacks Suche nach einem unbekannten Kindermörder ist gewissermaßen umzingelt, eingekreist durch diese Bilder, so wie Sean Penns Film automatisch eingefasst ist in die Geschichte seiner Geschichte: Das Versprechen (The Pledge) ist die inzwischen vierte Filmversion des gleichnamigen Romans von Friedrich Dürrenmatt, den dieser nach seinem Originaldrehbuch für Es geschah am hellichten Tag (Ladislao Vajda, 1958) geschrieben hatte.
An den Grundzügen der Geschichte hat sich nichts geändert: Auch Jerry Black sieht seiner Pensionierung ins Auge, als der Mord an einem kleinen Mädchen und der Selbstmord eines tatverdächtigen Außenseiters ihn dazu bringen, die Ermittlungen allein und jenseits der amtlichen Legitimation durchzuführen. Die Einsamkeit dieses Unterfangens ist bei Das Versprechen keine Folge des Mordes oder der Pensionierung. Sie ist mit der Figur des Jerry Black in jedem Moment verbunden und darum eher eine folgerichtige Entwicklung – eine „natürliche“ Reaktion, die mehr mit dem Reagierenden zu tun hat als mit dem Anlass.
Die klaustrophobische Stimmung aus Dürrenmatts Schweiz verlegt Das Versprechen in die Weiten von Nevada. Er übersetzt sie wie ein Gegenstück zu den Großaufnahmen der Gesichter bei Bergman in Totalen, Landschaftsbilder, in denen sich das Individuum verlieren wird. Entleerte, stille Räume sprechen ebenso davon wie die wenigen Gruppenszenen, die immer etwas Unwirkliches, Gezwungenes haben (wie die Abschiedsfeier der Polizeikollegen für Jerry), oder der riesige Truthahnstall, in dem Jerrys erstes Gespräch mit den Eltern des Mordopfers im monotonen Gegurgel der Truthähne untergeht. Nähe entsteht hier – wenn überhaupt – nur zu Jerry Black selbst, was zugleich Nähe zum Alter und zur Einsamkeit bedeutet.
Körperliche Berührungen sind sehr selten, und die offensivste Ausnahme dieser Regel ist das in jedem Wortsinn beklemmende Verhör, das Jerrys Kollege Stan (Aaron Eckhart) zu Anfang mit dem des Mordes verdächtigen Indianer Toby Jay (Benicio Del Toro) führt. Das zärtliche Streicheln des Polizisten, mit dem das Geständnis erleichtert oder besser: herausgedrückt werden soll, ist nichts als eine Lüge, ist Mittel zum Zweck, so wie später auch Jacks Beziehung zu der alleinerziehenden Lori (Robin Wright Penn) und deren Tochter Chrissy in erster Linie einem Ermittlungsziel gilt. Jerry wird Chrissy als Lockvogel für den Mörder benutzen, in dessen „Revier“ sich der pensionierte Polizist nun als Tankstellenbetreiber niedergelassen hat. Ein Moment der Zärtlichkeit zwischen Lori und Jerry überrascht uns darum vielleicht genau so wie Jerry selbst.
Verlorenheit und Unberührbarkeit teilen sich in Das Versprechen aber auch noch durch etwas anderes mit: Durch das Ensemble von Stars wie Benicio Del Toro, Vanessa Redgrave, Mickey Rourke, Helen Mirren und Sam Shepard, die alle nur kleine Rollen oder Kurzauftritte haben, ohne sich zu einem lebenden Miteinander zu verbinden. Sie tauchen auf, vertiefen einen Moment und verschwinden wieder, zu kurz, um eine Beziehung zu Jerry oder zu uns eingehen zu können, aber intensiv genug, um eine Leerstelle zu hinterlassen. Mehr an ihnen vorbei als mit ihnen ist Jerry auf der Suche nach einem Mörder, den zu fassen er den Eltern des getöteten Kindes versprochen hat: „Bei meinem Seelenheil verspreche ich, Jennys Mörder zu finden.“
Auch darin äußert sich das Drama dieser Figur: Wie kann ein Mann sein Seelenheil verpfänden, das er – wie es von Beginn an aussieht – längst verloren hat? So wird das Versprechen hier gleichsam umgedreht und also zu einem, dass Jerry sich selbst gibt, um sein Seelenheil wiederzugewinnen. Dabei muss er scheitern, weil Seele und Identität eben nichts Äußerliches sind, das wie ein Verbrecher einzufangen wäre.
Es ist kein Zufall, dass Jerry bei seiner Suche fast ausschließlich mit Menschen zu tun bekommt, die nicht mehr jung sind und mehr mit ihrer Vergangenheit verbunden als mit ihrer Zukunft. Die wirklich jungen, Mädchen wie Chrissy, sind potenzielle Mordopfer. Ihre Mutter Lori steht an der Schwelle zu einer neuen Zukunft mit Jerry, und auch sie wird am Ende diese Zukunft enttäuscht hinter sich lassen. Jede Figur trägt somit auf ihre Weise zu der Geschlossenheit bei, die Das Versprechen auf allen Ebenen prägt. Vor ein paar Jahrzehnten hätte dieser Film wohl das Prädikat „existenzialistisch“ erhalten: Er definiert die Wirklichkeit von der individuellen Existenz des Menschen aus und wird darüber zu einem Krimi um das Selbst.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 10/2001
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