Die letzten Seiten sind für dich
In weiter Ferne so nah: Mit „Die Rückkehr des Königs“ kommt Peter Jacksons Filmtrilogie „Der Herr der Ringe“ zu ihrem Abschluss. Ihr großer Erfolg erklärt sich unter anderem damit, dass sie eine entrückte und zugleich vertraute Welt erschafft
Es darf nicht vorbei sein, und doch ist das Ende gekommen. Im dritten Teil von Peter Jacksons Tolkien-Verfilmung kehrt der König zurück. Er schließt damit eine Trilogie ab, in deren literarischer Vorlage schon alles auf Dauer angelegt ist. J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ genießt seit einem halben Jahrhundert ungebrochene Popularität, unter anderem, weil er vom Überdauern der Zeiten handelt.
So wie der „dunkle Herrscher“ Sauron seine Vernichtung durch Isildur übersteht, bewahrt „Isildurs Geschlecht“ durch den edlen Nachfahren Aragorn die Macht. Ein geborstenes Schwert wird neu geschmiedet, der alte Bund zwischen Menschen und Elben erneuert. Elrond, der weise Elb, durchlebt die Zeitalter, und selbst das koboldartige Geschöpf Gollum kennt dank seiner Bindung an den Ring keine Altersgrenze. Das Überdauern steckt im Kern dieser Geschichte. Die findet ihre Form und ihre Sprache, indem sie auf uralte Legenden, Mythen und Sagen zurückgreift. Das bedeutet auch, dass das Ende einer solchen Welt nie wirklich das Ende sein darf. Nicht zufällig wiederholen sich nun die Statements von Verantwortlichen und Fans, die Kinotrilogie sei für die Ewigkeit gemacht.
In der Schlusssequenz von Peter Jacksons Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs überreicht der Hobbit Frodo (Elijah Wood) seine Aufzeichnungen seinem Getreuen Sam (Sean Astin). Wie bei Tolkien wird am Ende der Geschichte die Geschichte selbst in die Hand eines ihrer Akteure gegeben. „Die letzten Seiten sind für dich“, sagt Frodo. Sam nimmt das Manuskript an und trägt es heim hinter seine gelb gestrichene Hobbittür. Das Überdauern geht so mit der Aneignung der Geschichte einher. Wenn dieses Schlussbild zeigt, wie Der Herr der Ringe nach Hause getragen wird, spiegelt es die Haltung des Publikums. Millionen von Fans haben sich diese Geschichte im übertragenen und – in Form von Büchern oder DVDs – im wörtlichen Sinne angeeignet. So stellt sich mit dem letzten Bild von Die Rückkehr des Königs zugleich die Frage, wie diese übergreifende Aneignung gelingen konnte. Wie erklärt sich der Erfolg der Tolkien-Filme?
Auch der dritte Teil der Verfilmung ist nicht werkgetreu in dem Sinne, dass nichts aus dem Buch verschwände. Ganze Passagen fehlen, zum Beispiel die Befreiung des Auenlandes. Figuren wie Denethor (John Noble) oder der Zauberer Saruman (Christopher Lee) finden entweder ein anderes Ende als im Buch, oder -da war Christopher Lee wirklich sauer – kommen gar nicht mehr vor. Dennoch lieben die skeptischen Tolkien-Fans diese Verfilmung, und darin stimmen sie mit denen überein, die „Der Herr der Ringe“ nicht gelesen haben. Ein Grund dafür liegt in der liebevollen Genauigkeit, mit der die Filme Tolkien-Nerds und -Neulingen ein Zuhause anbieten: „Sprich, Freund, und tritt ein.“
Denn eine wesentliche Kraft der Kinoversion liegt gerade darin, die Geschichte um Zauberer, Halblinge, Orks und Warge zu erden. Zwar hätte die Fantasie ohne die heutigen Mittel digitaler Postproduktion niemals entstehen können. Zu Recht waren Jackson und sein Team stolz darauf, mit Gollum „eine der höchstentwickelten digitalen Kreationen“ zu bieten, „die man bisher gesehen hat“. Zugleich aber entstanden zahllose Gürtelschnallen, Schwerter und andere Requisiten, wie man betonte, „in Handarbeit“. Mit Nachdruck wurde darauf hingewiesen, dass die Geschichte in Neuseeland mehr als nur den perfekten Drehort, nämlich ein natürliches Zuhause gefunden habe. So wuchs Neuseeland zum realistischen Unterbau des Fantastischen, es wurde dem Film zum spürbar „echten“ Boden. Dort, in einer Art neuen alten Welt mit dem Nimbus der unentdeckten Winkel, sollte sich Mittelerde tatsächlich finden. Die Touristenströme zum Drehort Matamata, der jetzt Hobbiton heißt, erzählen von der erfolgreichen Aneignung der Heimat des Fantastischen: „Herzlich Willkommen in Neuseeland, dem Land der Hobbits, Elben, Orks und Zwerge.“
Wenn nun im dritten Teil die Massenschlacht um Minas Tirith entbrennt, wenn der Mensch Aragorn (Viggo Mortensen), der Zwerg Gimli (John Rhys-Davies) und der Zauberer Gandalf (Ian McKellen) sich gegen die Orkmassen werfen, Orlando Bloom als Elb Legolas behände ein Mammut erklimmt, wenn Sam gegen die Riesenspinne Kankra antritt und wenn Frodo am Ende mit Gollum um den Ring kämpft, dann sind diese Ereignisse stets umrahmt von großartigen Panoramaschwenks und -flügen, die die reale Stofflichkeit dieser irrealen Welt betonen. Mittelerde ist ausgedacht und wahr, ist fantastisch und real im selben Augenblick. Dieses Dazwischen – fern und nah zugleich zu sein – ist nicht nur eine prinzipielle Dialektik fantastischer Erzählungen. Sie durchzieht Peter Jacksons Tolkien-Verfilmung auf so unterschiedlichen Ebenen, dass hier der Schlüssel zum Erfolg liegen könnte.
Nah wird uns das Fantastische der Fantasy, weil es eben nicht nur entrückt oder weltfremd ist. Es ist auch auf Weltbilder angewiesen, die auf die eine oder andere Weise vertraut erscheinen. So stützt sich Fantasy auf Verhältnisse, die in Märchen und Sagen als unsere Vergangenheit überliefert werden: das Mittelalter in Mittelerde. Sie ruft aber auch solche Verhältnisse auf, die in unserer Gegenwart eine Rolle spielen.
Dazu gehören nicht nur Landschaften wie die lieblich grünen Wiesen des Auenlandes oder die Naturgesetze, die von Zauberern und anderen Wesen ja erst spektakulär überwunden sein wollen. Auch patriarchale Familienordnungen und Definitionen strenger Geschlechterverhältnisse und unterschiedener „Rassen“ sind unserer Gegenwart so nah, dass sie als vertraut und ebendeshalb auch als so problematisch erscheinen. Daher können sie als sexistisch und rassistisch kritisiert werden.
Nah und fern zugleich ist uns in diesem Sinne auch der dritte Teil von Der Herr der Ringe, da er ruhmreiche Schlachten inszeniert, in denen die hellen, hehren Völker des Westens gegen die dunklen, verschlagenen des Ostens obsiegen. Diesmal kommen sogar noch die dunklen Haradrim aus dem Süden hinzu, die im Film als Schreckensbild des marschierenden Islam durchgehen könnten. Zum einen leben diese Bilder tausender kämpfender Männer, unter denen nicht mehr als drei wirkungsmächtige Frauenfiguren die Übermacht der männlichen Akteure umso sichtbarer machen, eindeutig von lebendigen Stereotypen.
Zum anderen aber scheinen sich die Filme dieser Problematik zumindest teilweise bewusst zu sein und auf die diesbezügliche Kritik an Tolkiens Werk in jenen Momenten zu antworten, in denen sie von der Vorlage abweichen. Die wenigen Frauenfiguren, allen voran die Elbin Arwen (Liv Tyler), erfahren im Film eine zumindest proportionale Aufwertung. Und Aragorn ist selbst dann, wenn er als König zurückkehrt, nicht der unantastbare, herrische Führer aus der Vorlage. Eher gibt Viggo Mortensen seine Figur als eine Art individualisierten Grunge-King (am Ende sogar mit Gesangseinlage), der bei der Krönung nett unsicher lächelt und es nicht erwarten kann, Arwen endlich einen Zungenkuss zu verpassen.
Wenn also Fantasy prinzipiell davon lebt, uns fern und nah zu sein, nichts und alles mit unserer aktuellen Welt zu tun zu haben, so liegt ein Erfolgsgeheimnis von Peter Jacksons Verfilmung in der Vielschichtigkeit ebendieser Bedingung: in der Komplexität zwischen Entfernung und Nähe zu den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen, aus denen heraus und in die hinein die Filme produziert worden sind. Dies gilt besonders für ein Kernmotiv, das diese Geschichte sowohl zu einer zeitlosen als auch zu einer besonders zeitgemäßen Erzählung macht. Der Herr der Ringe variiert die über Kulturen und Religionen hinweg beliebte Geschichte eines Auserwählten: Ein Hobbit, kleiner als ein Zwerg und „in euren Augen ein Kind“, ist hier vom Schicksal bestimmt, eine Bürde zu tragen und für andere zum Heilsbringer zu werden.
Dass Frodo durch eine höhere Macht zum Träger des Ringes bestimmt wurde, verbindet ihn mit anderen Helden aktueller Kino-Mehrteiler. Harry Potter, der Zauberjunge, ist dazu bestimmt, als Einziger gegen den finsteren Lord Voldemort zu bestehen. Das Zeichen seiner Berufung trägt dieser Auserwählte in Form einer Narbe auf der Stirn. Berufen ist ebenso Anakin Skywalker, der junge Held der ersten drei Star Wars-Teile, bevor er – auch das ist bereits vorherbestimmt – zum fiesen Darth Vader mutieren wird: Seine „Rekordzahl an Midi-Chlorianern im Blut“ zeichnet ihn schon als Kind als den „Einen“ im kommenden Krieg der Sterne aus. Neo schließlich, der Held der gerade beendeten Matrix-Trilogie, gilt den Widerstandskämpfern gegen das Maschinenregime als „the one“, und wie ein SciFi-Frodo durfte er dann auch in Matrix – Revolutions am dunklen Schicksalsberg dem Maschinen-Sauron ins Technikauge blicken.
So wenig dadurch Frodo mit den anderen „Einen“ gleich wird, so sehr manifestiert sich in ihrer Gemeinsamkeit als Erwählte ein grundsätzliches Bedürfnis. Der Wunsch, dauerhaft „gemeint“ zu sein, von etwas außer einem selbst erkannt (und vielleicht sogar geliebt) zu werden, eine überdauernde Bestimmung, einen Sinn zu finden, ist zeitunabhängig. Zugleich aber scheint dieses derzeit so populäre Motiv des Auserwählten auch auf jene Prozesse zu antworten, die als Aspekte der „Destabilisierung“ im flexiblen Kapitalismus breit diskutiert worden sind.
Die steigende Zahl derjenigen, die zwei oder mehr Jobs parallel ausüben, der schwindende Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit, die wachsende Zahl Arbeitsloser ohne Perspektive, „Outsourcing“, der Wegfall langfristiger Arbeitsverträge: All dies arbeitet Prozessen von Destabilisierung zu, die man als das genaue Gegenteil eines Auserwähltenstatus bezeichnen kann. Anstatt dauerhaft gemeint und bestimmt zu sein, soll sich der Mensch der aktuellen ökonomischen Ordnung auf Flexibilität in allen Bereichen einstellen. Vielleicht sind tatsächlich gerade wir als so genannte flexible Menschen mehr denn je an Geschichten interessiert, in denen eindeutige Bestimmungen existieren und als solche zu Herausforderungen werden: Die letzten Seiten sind für dich. Wenn unsere Aufgabe derzeit vor allem darin besteht, überhaupt einen Platz zu finden und für uns zu bestimmen, ist es die Aufgabe von Frodo und seinen Gefährten, ihren bereits vorbestimmten Platz zu verstehen und nach dem Weg zu suchen, diesem gerecht zu werden. Die Voraussetzungen haben sich geändert, die Suche bleibt. Auch darin wären uns die Helden des Fantastischen fern und nah zugleich.
Autor: Jan Distelmeyer
Diese Kritik ist zuerst erschienen in der: tageszeitung (taz) 11/ 03
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