Was bedeutet es eigentlich, wenn es in Filmkritiken heißt, ein Film zitiere andere Filme? Ein Film erinnert, verweist auf andere, kopiert oder variiert vielleicht ganze Szenen oder Motive, baut sie in die eigene Geschichte ein. Als Begriff schafft das Zitat Sicherheit im Fluss der Bilder und Töne, feste Größen und Ankerplätze der Kritik. Zitieren wird zum Erkennungszeichen, und als Könige des Zitaten-Kinos gelten seit Jahren die Brüder Coen, die für ihre Lust am Zitat und kinematografische Patch-work-Arbeiten sowohl geliebt als auch kritisiert werden. „Der Vorwurf, sie setzten ihre Filme am Reißbrett zusammen“, schrieb Sabine Horst schon Mitte der neunziger Jahre, „ist seinerseits ein Topos der Kritik geworden.“ Zuletzt, bei O Brother, Where Art Thou?, lagen die Bezüge irgendwo zwischen Preston Sturges, Clark Gable und Odysseus.
Und jetzt? Ein nordkalifornisches Städtchen in den späten vierziger Jahren, schwarzweiß, hartes Licht und schwere Schatten, eine untreue Ehefrau, Erpressung und lakonische Off-Kommentare des Helden: „Me, I don’t talk much. I just cut the hair.“ Weil wir gelernt haben, beim nächsten Coen-Film nach den möglichen Zitat-Quellen Ausschau zu halten, schalten wir sofort: Film noir. Und für alle, die neu im Geschäft sind, erklärten Joel und Ethan Coen im Vorfeld (z.B. in Cannes, wo Joel Coen als bester Regisseur ausgezeichnet wurde), die Bezugsgröße sei diesmal James M.Cain. Aus Cains Romanen sind Klassiker wie Double Indemnity (1944), Mildred Pierce (1945) und The Postman Always Rings Twice (1946) entstanden. Richtet sich mit The Man Who Wasn’t There nun also die vielzitierte Zitierwut der Coens auf den amerikanischen Film noir der vierziger Jahre? Einerseits müsste die Antwort wohl „Ja“ lauten, andererseits ist schon die Frage falsch. Natürlich hat The Man Who Wasn’t There eine ganze Menge mit Hollywoods „Schwarzer Serie“ zu tun; soviel nämlich und auf eine derart freie Art, dass der Zitat-Begriff hier an seine Grenze kommt. „Yes, I worked in a barber shop, but I never considered myself as a barber“, lauten die ersten Sätze unseres Erzählers Ed Crane (Billy Bob Thornton), während er lustlos seiner Arbeit und dem Rauchen nachgeht. Überhaupt raucht der Friseur Crane bei fast jeder Gelegenheit – das ist sein Tick, so wie sein Schwager Frank (Michael Badalucco), der Besitzer des Ladens und „a principle barber“, nicht aufhören kann zu reden.
Die Geschichte lässt sich nur schwer erzählen, was schon ein spezielles Verhältnis zum Genre andeutet. Der Film übernimmt zunächst das Noir-Prinzip einer eher gradlinig, sich bedrohlich verengenden Handlung, baut jedoch bald so seltsame Kurven und absurde Ausflüge ein, dass innerhalb der Geschlossenheit ein unterdrücktes Chaos ausbricht. Es beginnt mit einem Verbrechen: Crane weiß, dass seine Frau Doris (Frances McDormand) ihn mit ihrem Boß Big Dave (James Gandolfini) betrügt, und so erpresst er Dave, um sich mit dem Geld eine neue Existenzgrundlage zu verschaffen. Als dieser seinen anonymen Erpresser entlarvt, kommt es zum Kampf, den Big Dave nicht überlebt. Des Mordes angeklagt aber wird nun nicht Ed, sondern Doris Crane, und der überraschte Ehemann engagiert den Starverteidiger Freddy Riedenschneider (Tomy Shalhoub), während er sich gleichzeitig für die klavierspielende Nachbarstochter Birdy (Scarlett Johannson) interessiert. Über allem ruht der trockene, unbeteiligte Tonfall des Erzählers, ein wortarmer Bericht, der ungefähr genauso karg daher kommt wie die beengende Schwarzweiß-Ästhetik und der ruhige Schnitt-Rhythmus. Am Ende wird jemand auf dem elektrischen Stuhl landen.
Das klingt nach Film noir. Mit derselben Lakonie erzählt Crane in The Man Who Wasn’t There, aber auch noch von einem ländlichen Familienfest, das irgendwie an der Der Pate erinnert, dann allerdings in Saureiten und Kuchenwettessen eskaliert. Es folgen Ufo-Beobachter mit Begegnungen der dritten Art, die Faszination der chemischen Trockenreinigung und eine wortwörtlich verunglückte Lolita-Geschichte, die mit Beethovens Klaviersonaten zusammenhängt. Schön und alles andere als ein Noir-Zitat ist es außerdem, dass Freddy Riedenschneider die Heisenbergsche Unschärferelation triumphierend für seine Verteidigungsstrategie ausbeutet: „Looking at things can change them. The more you look the less you know – because of this German, Fritz or Werner. Yes, Freddy Riedenschneider sees daylight!“
Wie The Man Who Wasn’t There und Film noir zusammenkommen, erschöpft sich weder in einer persiflierenden noch in einer zitierenden Bewegung. Hier werden nicht Motive eines Genres herzitiert, sondern der Film befindet sich auf eine seltsam neugierige Art immer schon mitten drin. Ungefähr so: das Genre funktioniert hier wie eine weitläufige Etage im Museumsgebäude der Filmgeschichte. Diese Film-noir-Etage ist natürlich in Schwarzweiß und weitgehend expressionistischen Lichtverhältnissen gehalten, die Seelenzustände übersetzen können und Schatten der Vergangenheit oder dräuend Zukünftiges an die Wand malen. Ein paar Räume sind auch für Neo-noir-Filme reserviert, und natürlich sind auch eine Reihe kluger filmtheoretischer und -kritischer Überlegungen zum Thema ausgestellt. Angrenzend finden wir verwandte Genres wie z.B. den Gangsterfilm, aber auch Zeitgeschichtliches der vierziger Jahre und Übergänge zu nächsten Stockwerken, z.B. zum US-Science-Fiction-Film der fünfziger Jahre.
The Man Who Wasn’t There ist wie ein interessierter Besucher dieser Etage. Er durchwandert sie, entwickelt in ihr seine Geschichte, schaut sich eine Menge an, dreht die Exponate neugierig um, stellt sie wieder zurück und macht sich dazu seine Gedanken – und wenn es ihm zu langweilig wird (das kommt vor), lugt er in angrenzende Räume oder folgt Querverweisen. Frances McDormand ist darum eine Femme fatale und gleichzeitig die Reflexion dieser Rolle, der Bruch mit dem Klischee und außerdem eine berufstätige Ehefrau. Billy Bob Thornton ist der perfekte Noir-Held, jedoch ohne dessen Getriebenheit und sexuelle Wünsche. „My wife and I had not performed the sex act for many years.“ Mit lustlos geschürzter Oberlippe schaut er sich selbst und seiner eigenen Geschichte zu, wundert sich ab und an leicht über „falsche“ Verläufe und bleibt nahezu teilnahmslos. Bis er versucht, der pubertierenden Birdy den Weg zu einer Pianistinnen-Karriere zu ebnen. „You are an enthusiast“, sagt Birdy. Das ist dann auch sein Ende.
Makaber ist daher nicht allein die Geschichte (und vor allem ihr überraschendes Finale), sondern das ganze Projekt. Wie man es auch nennen mag, ob Zitat, Ironie oder postmodernes Pastiche, The Man Who Wasn’t There entzieht sich solchen Begriffen und macht sie unmöglich. Aus allen vermeintlichen Sicherheiten heraus werden wir auf das Kino zurückgeworfen, oder wie Freddy Riedenschneider sagt: „The more you look, the less you know.“
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 11/2001
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