Schau niemals weg
Mit „Gangs of New York“ erzählt Martin Scorsese die Geburt der USA als blutiges Gewaltspektakel, bei dem sich die einzelnen Figuren seltsam leer und zeichenhaft wie auf einem Schachbrett verhalten
Es reicht. Er könne, ganz ehrlich, „das ganze Gerede über Krach zwischen Miramax-Chef Harvey Weinstein und mir“ nicht mehr hören, hatte Martin Scorsese zur Berlinale-Premiere gestöhnt. Dafür war es allerdings etwas zu spät. Zu viele hatten zu lange an der Geschichte vom „Kampf des Regie-Altmeisters“ gegen seinen Produzenten „Harvey Scissorhands“ mitgeschrieben. Und selbst wenn Scorsese diese Legende nun zu viel geworden ist, mehrt sie doch zugleich seinen Ruf als auteur, der seine Visionen gegen alle Marktinteressen zu verteidigen bereit ist.
Das liest sich gut: Kunst gegen Kommerz. Lange wurde die Fertigstellung von Gangs of New York erwartet und seine Entstehungsgeschichte mit Superlativen der klassischen Hollywood-Dialektik flankiert. Das teuerste Projekt der Miramax-Geschichte schwoll in den Kulissen der legendären Cinecittà-Studios von Rom von 80 auf 115 Millionen Dollar an. Anschließend stritt man um eine Schnittfassung von knapp vier Stunden. Ganz klar, ein „Showdown auf Raten“ war im Gange, ein „Krieg der Kosten“ zwischen Filmemacher und Studioboss, was sich als Bild für die Produktionssituation umso mehr anbot, als sich ja auch der Film selbst um Krieg dreht.
Wenn Herbert Asburys literarische Vorlage, der Oral-History-Klassiker „Gangs of New York“ von 1928, die Straßenkämpfe rivalisierender Gangs im New York Mitte des 19. Jahrhunderts und die Draft-Riots im Juli 1863 als Entstehungsgeschichte der USA erzählte, dann war die Verfilmung dieser Birth of a Nation selbst von „sich über drei Jahre hinziehenden Geburtswehen“ gekennzeichnet. Film und Geschichte schienen im Metapherntaumel eins: Das „Kino als Kreißsaal“, so hieß es, werde von der „gewalttätigen Geburt der Nation“ erzählen.
Derart vorbereitet begegnen wir den ersten Bildern. Angekündigt von Kratzgeräuschen fährt eine Klinge über Bartstoppeln; kein Rasierschaum trennt Fleisch und Messer, das bald darauf eine Wunde schneidet. Der Anfang ist gemacht. Und wie könnten wir anders, als ihn symbolisch zu deuten? Ist das Fehlen des Rasierschaums nicht Ausdruck der Radikalität, mit der Gangs of New York der amerikanischen Geschichte zu Leibe rücken wird, um buchstäblich ins eigene Fleisch zu schneiden? Stimmt hier nicht der Film ein in die Wucht des Zeichenhaften?
Die Bestätigung kommt prompt. Priest Vallon (Liam Neeson) nimmt das blutige Messer von seiner Wange und reicht es seinem Sohn Amsterdam mit der Mahnung, es nicht abzuwischen: „Blood stays on the blade“, die Klinge bleibt blutig, und daran wird sich in den folgenden knapp drei Stunden nichts ändern. Frisch rasiert führt „The Priest“ die irischen Einwanderer der „Dead Rabbits“-Gang im Winter 1846 in die Schlacht um das Armenviertel am Südrand der Lower East Side, dem eine Kreuzung aus fünf Straßen den Namen Five Points gegeben hat. Der Gegner, die „Native Americans“ und ihr Anführer Bill „The Butcher“ Cutting (Daniel Day-Lewis), sind nicht etwa Indianer, sondern die in Amerika geborene zweite Einwanderergeneration, die mit Hass auf Schwarze, neue Emigranten und vor allem auf die katholischen Iren blickt, die wöchentlich zu tausenden in New York eintreffen.
Die Schlacht im Schnee wird ein einziges Hauen und Stechen. Michael Ballhaus Kamera- und Lichtregie konzentriert sich auf das Körperliche dieses Kampfes, auf Blut, Fleisch und Dreck. Die hektische Nähe, die Knüppel und Messer verlangen, gilt auch für die Kamera, die eine Übersicht erst wiederfindet, nachdem der Priester tödlich getroffen und im Sterben seine letzte Ermahnung an den Sohn, an Ballhaus und uns ausgesprochen ist: „Never look away!“
Was ist zu sehen? Die Rache des Amsterdam Vallon (Leonardo DiCaprio) beginnt als Verneigung vor seinem Vater und wird doch dessen Mörder zu einer neuen Vaterfigur machen. 1862, sechzehn Jahre nach dem Sieg Bill Cuttings, kehrt er zurück, erschleicht sich als Ziehsohn das Vertrauen des Five-Point-Herrschers, um ihn zu ermorden. Auf seinem Rachefeldzug erfahren wir, dass New York von Kämpfen einzelner Gangs bestimmt wird, dass Angst und Abschreckung Menschen wie den „Butcher“ am Leben erhalten und die Teilnahme am ausgebrochenen Bürgerkrieg nicht von Einigkeits- oder Befreiungsgedanken abhängt, sondern davon, ob man 300 Dollar zur Freistellung aufbringen kann. Der Civil War ist eine Klassen- und Besitzstandsfrage, Rassismus sowieso allgegenwärtig.
Wenn Amerika dieses New York ist, dann ist es ein Schlachthaus, regiert von Metzgern wie Bill Cutting, der angetan mit Fleischerschürze und Messergürtel keinen Unterschied macht zwischen Mensch und Schwein. Braun und Rot sind die Grundtöne dieser Innereien des Melting Pot. Die Vergleiche mit den apokalyptischen Szenarien eines Hieronymus Bosch und Pieter Bruegels Sittenbildern stimmen darum und greifen doch zu kurz, weil die Filmbilder selbst schneiden und mit anhaltenden Kamerabewegungen immer weiter in ein Inneres vordringen, ohne darin eine Seele zu entdecken.
Denn trotz aller Symbolkraft ist Gangs of New York ein zutiefst materialistischer Film. Niemand vertritt hier eine höhere Idee, für die wir die Brutalität billigend in Kauf nehmen könnten. Im Gegensatz zu Hollywoods Tradition der Historienfilme sind alle Bewegungen von Einzelinteressen geleitet – nicht einmal „die Liebe“ hat hier wirklich Platz: Amsterdams Beziehung zu der Diebin Jenny Everdeane (Cameron Diaz) wirkt seltsam schal, überwindet nie die Nöte und Zwänge der Individuen und führt immer wieder auf die Straße, den Ort des Kampfes, zurück. „Native Americans beware of the foreign influence“ steht auf der Flagge, in die sich Bill Cutting in einer Szene einhüllen wird . das einzige Angebot an ideologischen Maximen ist Ressentiment, geschürt aus Angst vor dem Verlust persönlicher Macht.
Wie auch immer diese Wirkung zustande gekommen sein mag, ob nun durch die spezielle Scorsese/Weinstein-Kooperation, andere Faktoren oder auch den eben daran geschulten Blick: Das Ringen zwischen tragenden Zeichen, Bedeutungsschwere und einer Verweigerung all dessen treibt Gangs of New York an und mag auch dafür sorgen, dass keine dieser Figuren so etwas wie Nähe zulässt. Zu Recht kann man Scorsese vorwerfen, die Charaktere der Vaterfiguren, des doppelten Sohns DiCaprio und seiner Geliebten blieben seltsam leer, beinahe wie perfekt kostümierte Schachfiguren. Gleichzeitig aber trägt diese „Schwäche“ des Films, das Fehlen von Identifikationsmöglichkeiten, genau zu jener desperaten Stimmung bei, in der man trotz aller Anstrengung allein bleibt.
Aus diesen Widersprüchen gewinnt Gangs of New York seine sehr eigene und immens politische Kraft, die Enttäuschung und Erkenntnis, Grauen und Schönheit zugleich ist. Das aufgeladen Zeichenhafte der Ankündigungen, der Schauplätze und einzelner Bild- und Dialogkompositionen steht einer übervollen Leere gegenüber, einem Blick, der immer wieder auf reine Körperlichkeit zurückgeworfen wird. Daniel Day-Lewis fett glänzende Haare, seine blutige Schürze, ein Schwein wird am Fleischerhaken filetiert; Brendan Gleeson am Boden, in seinem Rücken ein Metzgerbeil. Eine Wunde ist eine Wunde, blood stays on the blade. Genau für diese geradezu haptische Erfahrung brauchte der Film selbst eine eigene Körperlichkeit: die aufwendigen Studiobauten von Cinecittà.
New York ist Amerika, ist ein Versprechen und doch nichts anderes als eine Hafenstadt und Ansammlung von Partikularinteressen, die unweigerlich zu den (Verteilungs-)Kämpfen führen, deren Zeuge wir werden. Die Apokalypse ist keine, sondern Alltag: So tief und gekonnt wir auch mit Michael Ballhaus Kamera und Thelma Schoonmakers Schnitt in das Innere dieser Stadt vordringen, werden wir doch nur Einzelne finden, die um ihr Weiterleben ringen.
Bill Cutting hat Recht: „Thank God, I die a true American!“ Wenn am Ende eine Totale auf Manhattan im Zeitraffer die Wolkenkratzer bis ins Jahr 1980 wachsen lässt, wissen wir nicht, warum und in welchem Geist, sondern nur, worauf sie errichtet sind. Ein Einsturz dieser Gebäude, von wem auch immer initiiert, muss von diesem Boden der Gewalt aus wie eine fast schon natürliche Bewegung erscheinen. Die Symbolik ist zurück.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: taz 01/ 03
- Krisenfest – Zu Untergangsvisionen im Film und der Finanzkrise - 16. November 2013
- Filmverfügungen (Blu-ray) - 4. Dezember 2010
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