Es ist kalt, und wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Zusammengekauert ist Billy Brown (Vincent Gallo) auf der Bank einer Bushaltestelle eingeschlafen. Das Gefängnis, aus dem er wenige Stunden zuvor entlassen worden war, liegt etwa 20 Meter hinter ihm. Mosaikartig besetzen Bilder seiner Gefängniszeit die Leinwand. Die haben nichts Heimeliges an sich, sprechen aber von trister Wiederholung und gewalttätiger Regelmäßigkeit. Die Frage des „Wohin“ stellt sich für Billy nach seinem Erwachen mit neuer Nachdrücklichkeit – er sucht dringend ein Klo, wird an der Gefängnispforte abgewiesen und nimmt endgültig heimatlos den letzten Bus in seine Heimatstadt Buffalo, New York.
Die folgenden 90 Minuten von Vincent Gallos Regiedebüt Buffalo ’66 beschreiben und erzeugen mit einer Lakonie, die in Anlehnung an das New American Cinema der 60er Jahre immer schon Momente der Komödie und des Melodramas in sich vereint, ein Gefühl von Verlorenheit, für das auch eine Rückkehr „nach Hause“ keine Erlösung bedeuten kann. Im Gegenteil. Der Schmerz des Suchenden liegt eben darin, daß Heimat nicht existiert und doch ständig Teil der eigenen Geschichte ist: als zukünftige Sehnsucht und als machtvolle Erinnerung an die Kindheit.
Um seine Eltern zu besuchen, denen Billy das abenteuerliche Leben eines weltreisenden Regierungsbeauftragten vorlügt, entführt er Layla (Christina Ricci), die er auf seiner panischen Toiletten-Suche in einer Tanzschule getroffen hatte. Layla wird für Mr. und Mrs. Brown „Wendy“ heißen und die junge Ehefrau ihres erfolglosen Sohnes geben: „Er ist beim CIA.“ Allein diese Inszenierung eines glücklich-wohlhabenden Paares hat angesichts Billys abgerissener Kleidung, der roten Stiefeletten, seiner Gefängnis-Blässe und Laylas Steptanzkleid reichlich absurden Charakter. Darin überboten werden beide jedoch von Billys nahezu autistischer Mutter Janet (Anjelica Huston), die sich seit Jahrzehnten für nichts anderes als das örtliche Football-Team interessiert. Vor dem Haus schreit ein Transparent „Go Buffalo!“, und pausenlos zeigt der Videorecorder das einzige Spiel der Buffalo Bills, das Janet Brown jemals verpaßt hat. Es ist das Meisterschaftsfinale von 1966, das an dem Tag stattfand, an dem sie ihren Sohn Billy zur Welt brachte. „Hätte ich ihn bloß nicht bekommen.“ Das gemeinsame Abendbrot gestaltet sich dementsprechend.
Die Szenerie des Elternhauses ist von so alptraumhafter verhinderter Starre und in sich verschrobener Normalität, daß die Tragik von Billys Kindheit immer schon vom Wahnsinn der Mutter und dem cholerischen Vater Jimmy (Ben Gazzara) konterkariert wird. Der zeigt seinerseits sein verschlamptes Crooner-Talent bei einem Ständchen für Schwiegertochter Wendy und scheint nebenbei mit seiner Frau durch nichts als ihre Football-Begeisterung an die gemeinsame Vergangenheit gebunden. Zuhause, das ist neben allen Bindungen, Versprechen, Enttäuschungen, neben aller Vertrautheit, Verletzung und Geborgenheit auch der Ort, an dem wir Zusammensein gelernt haben. Was macht ein Liebespaar aus? Eine Antwort darauf wird später Billy geben, als er mit Layla Pärchenfotos für die Eltern im Automaten inszeniert: „Komm schon, wie Mann und Frau. Wir fassen uns nicht an und überbrücken die Zeit. Wie Mann und Frau, überbrücken Zeit.“
„Gewiß, die Szene ist geschrieben“, hatte John Cassavetes 1976 der französischen Filmzeitschrift „Positif“ erklärt, „die Worte sind festgelegt – aber zwei hervorragende Schauspieler wollen der einfachen Diktion des Textes ihr persönliches Siegel aufdrücken. Als Interpreten haben sie ihre Wahl zu treffen: zu lieben, etwas zu erwarten oder nichts zu erwarten, eine mehr oder weniger epische Qualität zu finden. Ansprüche zu haben oder nicht.“ In Buffalo ’66 hängt eben eine solche epische Qualität gerade mit der Bewegung des „Dazwischen“ zusammen: zwischen Lieben und Nicht-Lieben und zwischen Erwartungen und der Gewißheit, nichts erwarten zu können. Die verbindende Bewegung findet vor allem zwischen Layla und Bobby statt, was Buffalo ’66 – der in den USA in erster Linie als das ambitionierte Werk eines neuen Filmemachers gefeiert wurde – zumindest in dieser Beziehung zu einem Ensemble-Film macht. Vincent Gallo, der als Schauspieler zuletzt in Claire Denis‘ Nénette et Boni, Abel Ferraras The Funeral, Kiefer Sutherlands Ort der Wahrheit und einer TV-Jeans-Werbung zu sehen war, und Christina Ricci, die seit der Addams Family mit Ang Lees Der Eissturm und Terry Gilliams Fear and loathing in Las Vegas eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat, tragen diesen Film.
Zwischen beiden entwickelt sich eine Beziehung, die von dem Wagnis handelt, die Nähe eines anderen zuzulassen. Anjelica Huston, Ben Gazzara und Vincent Gallo hatten zuvor die Unmöglichkeit von Nähe, Austausch und Berührung ausgespielt, und zu seinem „besten Freund“ Goon (Kevin Corrigan) kann Billy sich nur am Telefon verhalten. Doch obschon sich der Hase-und-lgel-Wettlauf zwischen Verbundenheit und Distanz zwischen und mit allen Figuren abspielt, findet er in Billy sein ständiges Zentrum. „Kannst du mich festhalten?“ bittet er Layla vor der Haustür seiner Eltern, um ihre Berührung daraufhin mit „Faß mich nicht an!“ abzuwehren. Billy ist Ausgangs- und Endpunkt dieser Geschichte, und hinter ihm werden konsequent alle Figurenzeichnungen zurückstehen. Fragen zu Layla – warum sie trotz allem nach der familiären Stippvisite bei ihm bleibt, warum sie sich für ihn interessiert und warum wir nichts außer ihrem Äußeren, ihrem Ausdruck, von ihr erfahren – können wir allerhöchstens mit Billys Aktion und ihrer Reaktion beantworten.
Die Grenzen, innerhalb derer Buffalo ’66 manchmal die beklemmende Genauigkeit von Cassavetes-Filmen erreicht, sind die einer Männer-Phantasie. Eine Phantasie freilich, die sich selbst im Stich läßt, und deren Verfall auch an den Cameo-Auftritten von den Ex-Stars Jan-Michael „Airwolf“ Vincent und Mickey Rourke sichtbar wird. Das Eigene ist – wenn auch äußerlich und in sich zerrüttet – immer noch das Ich des weißen heterosexuellen Mannes. Das andere muß als mysteriöses Objekt die Frau bleiben- Layla als Mutter, ( Kranken-)Schwester und Sexualobjekt in einem. Wenn am Ende von Buffalo ’66 so etwas wie Veränderung und Berührung möglich scheint, dann ebenfalls innerhalb dieser Grenzen, die dem Gefühl von Verlorenheit die vielleicht nachhaltigste Färbung geben.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 12/98
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