Viel Wald, kein Herz
Dem Blockbuster-Fluch erlegen: Terry Gilliams neuer Film „Brothers Grimm“ macht aus den Grimm’schen Märchen ein Fantasy-Spektakel
Märchen, zumal die der Brüder Grimm, gehören uns allen. Sie sind enteignete Texte, Open Source, als Allgemeingut ohne abgesegnete Autor-Instanz immer schon „instand besetzt“. Hexen, Riesen, Schlösser, Wälder sind uns nach unseren Hör- und Lesarten entstanden ganz so, wie es die Vorrede der Grimms zu „Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm“ 1819 anheim stellte: „Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen; dabei denken wir an die segnende Kraft, die in ihnen liegt, und wünschen, dass denen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.“
Diese Aneignungspolitik macht die Grimm’schen Märchen zu einem extrem dankbaren und zugleich ganz unmöglichen Filmstoff. Das Traumhafte der Texte schreit geradezu nach seiner filmischen Inbesitznahme. Und genau in diesem Sinne wird Terry Gilliams Brothers Grimm dann auch beworben: Als fantastisches, wundersames Filmabenteuer, von Gilliam mit natürlich unverwechselbarer Handschrift als düsteres Schauermärchen entworfen, das sich die Brüder Grimm nicht schöner hätten ausdenken können.
Aber spätestens wenn es um großes Kino mit Stars und Blockbuster-Qualität geht, wird es heikel. Wie könnte ein solcher Film ein Massenpublikum ergreifen, in dem jede und jeder persönliche und nicht selten leidvoll erworbene Bilder dazu mitbringt? Wie sollte man den „wohlwollenden Händen“ ihren Schatz wieder entreißen, um ihnen mit Neuem zu kommen?
Die Antwort der „Brothers Grimm“ ist erst mal ein doppelter Exorzismus. Wilhelm und Jakob Grimm gondeln als Ghostbuster Will und Jake durch das französisch besetzte Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und treiben dem abergläubischen Volk jene Übernatürlichkeiten aus, die sie mit allen mechanisch-rostigen Tricks findiger Scharlatane zunächst selbst zum Leben erwecken. Es gibt keine Märchen, sondern nur sie, die Stars des „Teams Grimm“, eine Art heimliches Dorfkino mit der (fast) perfekten Illusion eines vorelektronischen Märchen-Themenparks. Fauchend fliegt das Hexengestell unters Mühlendach. Und nach getaner Arbeit bekennt der eigentlich ganz romantische Jake (Heath Ledger) im Suff, dass man halt „mit Hexen prima Geld verdienen kann“, während der leichtlebige Will (Matt Damon) mit zwei Groupies sein Lieblingsspiel „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ treibt. So viel zu den Brosamen der Poesie für die Armen und Genügsamen.
Das Showbusiness läuft gut, bis die beiden als Lügner und Hochstapler von der Besatzungsmacht in Gestalt des betont französisch aufgeblasenen Generals Delatombe (Jonathan Pryce) und seines betont italienisch durchgeknallten Folterknechts Cavaldi (Peter Storemare) hopsgenommen und zum Tode verurteilt werden. Einziger Ausweg: Sie sollen das Geheimnis von zehn verschwundenen Mädchen in einem vermeintlich verwunschenen Wald aufdecken: „Jemand in Marbaden arbeitet wie ihr.“ Den Akte-X-Auftrag für Team Grimm nutzt Terry Gilliams Film, um den postklassischen Exorzismus mitsamt Kino-Analogie flugs in eine Neubelebung der Märchenwelten zu überführen. Soll doch nicht alles eitel Tand und Budenzauber sein, und so geht’s am Ende doch noch um den Bann einer veritablen Hexen-Königin (Monica Bellucci) mit Spiegelzauber und Werwolf-Vasall. Der Wald, der deutsche Wald, auch hier mythisch wie politisch aufgeladen, wird dadurch zum fantastischen Zentrum von Brothers Grimm. Er war schon die ganze Zeit der Fluchtpunkt dieses Films.
Sind die matschigen Dorfwege und windschiefen Häuschen stets im ostentativen Farbton jener „grauen Vorzeit“ Grimm‘ scher Düsternis gehalten, wuchert im Wald das Fantastische, die Poesie des Märchens. Hier und von hier aus soll nun endlich alles möglich sein; hier will das Kino-Märchen zum Kino wie zum Märchen zurückkehren. Jedes Mal, wenn sich im Wald von Marbaden die Bäume verschieben, wenn deren Wurzeln ungläubige Eindringlinge verschlingen, ist es, als solle nun jeder Exorzismus gerächt werden. Weil Brothers Grimm aber zugleich weder die Institution gewordene Ironie noch das Historisieren mit Stereotypen aufgibt, ereilt diesen Film das, was man den Blockbuster-Fluch nennen könnte: Er will allen alles sein und verliert darüber sein Herz.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in der taz: September 2005
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