Die ersten Bilder sind von einer so eigenen Schönheit, daß sie gleichzeitig zu einem Gefühl von Unrecht und vielleicht Schuld führen. Das hat nicht nur mit dem Verzicht auf Farbe in der Auftakt-Sequenz zu tun, in der wir in eine Landschaft eintauchen und Gesichtern begegnen, sondern auch mit der Konfrontation mit einem für uns fremden Kosmos, der in sich zeitlos wirkt und doch so eindeutig ein Produkt der aktuellen Politik der Ausgrenzung und Abschiebung ist. Eine Reihe noch unbekannter Menschen bewegt sich suchend auf einem unüberschaubaren Berg von Müll und Undefinierbarem, um sie herum Schwärme von Krähenvögeln. Die Erzählerstimme kommentiert: „Sobald es friert, stinkt der Müll nicht mehr, sagen die Leute auf der Kippe. Dabei habe ich noch Glück. Vor einer Woche waren es noch minus 20 Grad, jetzt sind es nur noch die Hälfte.“
Andrei Schwartz‘ eingesprochene Off-Texte legen von Anfang an die Hintergründe und die Entstehungsgeschichte von Auf der Kippe dar. Über ein halbes Jahr hat er mit seinem kleinen Team in „Dallas“, einer Zigeuner-Siedlung am Rande der Müllkippe des rumänischen Cluj(Klausenburg), gelebt und gedreht. Er erzählt von Déjà-vus und verborgenen Bildern seiner eigenen Kindheit in Rumänien, die er freizulegen und mit Auf der Kippe zu bearbeiten sucht – „30 Jahre und meine Emigration liegen dazwischen.“
Über 200 Stunden Material sind in diesen Monaten in der illegalen Siedlung der Roma entstanden, die letztlich auf 75 Minuten komprimiert worden sind, damit sie ins Kino passen. „Dallas“ heißt die Barackensiedlung, weil – so erklärt es Lena – einer mal gesagt hat: „Wie die in Dallas habt ihr euch hier versammelt.“ „Hier“ begegnen wir z.B. Dica. der Großmutter, die eine Art Chronik des Unrechts, das ihr Leben war und ist, erzählt, der 13jährigen Ciula, die als Schwester zugleich Mutter ihrer Brüder ist, und den Kindern Alin, Gabi, Niculaie und Aurel, die zusammen eine ganze Nacht auf der Kippe für ca. 3 Mark arbeiten. Die Summe ist entscheidend. Die Frage nach Geld und Essen stellt Auf der Kippe so regelmäßig und eindeutig, daß ein pittoreskes Bild von Armut als verbindendem Schicksal unmöglich wird. Immer wieder: „Was habt ihr heute verdient?“. „Wie arbeitet ihr im Dunkeln‘?“. „Wieviel Geld habt ihr noch bis zur nächsten Fuhre?“ Die Normalität des Elends offenbart sich dabei gerade durch die Ausflüge in die nahe Stadt, mit denen Auf der Kippe die Unwirklichkeit dieser ausgegrenzten Gemeinschaft aufhebt und in die (unsere) Welt zurückbringt.
Dieses Insistieren auf eine möglichst offene Darstellung der Verhältnisse ist zugleich Ausdruck einer Methode von Auf der Kippe, die sich am besten mit dem Wort „Anteilnahme“ fassen läßt. Anteilnahme in jeder Form – der des Begleitens der alltäglichen Abläufe, des Einblicks in familiäre Dramen, der offenen Benennung der Strategie der politisch Verantwortlichen und der Beobachtung von Bräuchen, kulturellen Identitäten und deren Veränderungen. Anteilnahme aber meint hier auch das systematische Vermitteln der eigenen Anwesenheit. Auf der Kippe erzählt permanent von der Einflußnahme der Filmemacher auf das scheinbar so „authentische“ Leben in der Siedlung: „Wir waren für die Kinder wie das TV-Programm. das sie nicht haben.“ Die Kamera leugnet zu keiner Zeit die eigene Präsenz, und am Ende werden wir Andrei Schwarz dabei beobachten, wie er seine Darstellerinnen und Darsteller ausbezahlt.
Diese Form des filmischen Selbstbewußtseins ist nicht nur für die grundlegende Frage nach den Möglichkeiten dokumentarischen Arbeitens im Kino interessant. Vielmehr vermittelt sich gerade über diese Offenlegung der Produktionsverhältnisse (in jedem Sinne) die Nähe zu den Menschen in Dallas. Wir sind nicht Zuschauer einer sich als real gerierenden Inszenierung, sondern selbst Teil des Prozesses, von dessen Auswirkungen wir Zeuge werden. Das heißt auch, daß hier die Verknüpfung unseres Lebens mit dem zunächst exotisch anmutenden Dallas auch auf der Ebene möglich wird, die von Verteilung und Ausbeutung handelt. Weil sich die Kamera immer schon als Teil des Bildes vermittelt, kann sie sich auf eine Weise zurückhalten, die den Menschen von Dallas und ihren Geschichten Raum gibt, ohne sie als Opfer immer schon „im Recht“ zu zeigen. Diese Form der Anteilnahme hat vor allem mit Respekt zu tun – und mit der Thematisierung von Vereinnahmung.
So verfällt Auf der Kippe auch dann nicht in Pathos, als über Nacht Hütten in Dallas abbrennen und einige uns längst vertraut gewordene Familienmitglieder ums Leben kommen. „Wahrscheinlich haben sie zuviel Plastikflaschen in den Ofen gestopft.“ Mit der Distanz eines Detektivs berichten Angehörige am nächsten Morgen davon, daß sich ein Ehepaar im Feuer bis in den Tod an den Händen gehalten hat. Über ihre neugeborene Schwester wird Ciula einmal sagen, daß es „besser ist, wenn sie stirbt. Warum soll noch ein Kind in diesem Dreck aufwachsen?“
Die Schönheit und Anziehungskraft von Auf der Kippe liegt so vielleicht gerade in der liebevollen Distanz des Films zu seinem Inhalt. Er wird beidem gerecht, indem er von den beiden Seiten erzählt, die im Kino dann eins werden. Kürzlich hat Auf der Kippe in Toronto als bester ausländischer Film den Blue-Ribbon-Award gewonnen, im Dezember letzten Jahres ist er in Amsterdam mit dem Joris-lvens-Award, dem bedeutendsten europäischem Preis für Dokumentarfilme, ausgezeichnet worden.
Autor: Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 6/98
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