Wenn Träume sterben
Provinz geht, wenn man trotzdem denkt: „Die Kinder von Golzow“in Erfurt
Eine der Frauen, einst ein Kind von Golzow, fragt Winfried Junge .Was hast du
verdient mit uns? Die bessere Frage wäre: Wie berühmt bist du geworden mit uns? Und die Antwort hieße: sehr. Mit allem Recht.
Das Café Noir in Erfurt zeigt noch bis zum Sonntag täglich einen Film der Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow und diskutiert abschließend, Radio F.R.E.I. überträgt, die Frage Wo liegt die Provinz?. Diese Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung ist verdienstvoll in zweierlei Betracht. Zum einen, weil sie mitten in der Provinz nach eben dieser fragt und zum anderen, weil sie eines der spannendsten Projekte der Filmgeschichte präsentiert.
Winfried Junge kam, durch Vermittlung von Karl Bass, zu diesem weltweiten Unikat und zu einem Stückchen Unsterblichkeit, wie der Regieassistent zum Weihnachtsmärchen: Ein kleines Projekt, bei dem es nicht so darauf ankommt. Ein Nest in Brandenburg, die Wochen nach dem Bau der Mauer. Eine Klasse wird eingeschult, wir sind jung, die Welt ist unser und die Zukunft ohnehin. Nach einem Jahr kam Junge wieder und wieder und wieder, Jahr um Jahr. Als die Kinder größer wurden, da war es nicht mehr nur nett, sie bekamen, was
Menschen immer bekommen, was aber so nicht vorgesehen war im Lande, Probleme. Mit den Jahren verengen sich die Optionen, die ein Mensch für sein Leben hat, und irgendwann ist die Wahrheit unabweisbar wie der Tod. Gelebtem Leben eignet ein größeres Maß an Realismus als geträumter Zukunft. So gewannen die Filme mit den Jahren an Wahrhaftigkeit, so verloren die Kinder von Golzow ihren Status als Repräsentanten eines frohen Mutes sowie unbeirrbar in die lichte Zukunft marschierenden Generation. So geschah, was in der DDR immer geschah, die Filmemacher dämpften die Realität bis auf jenes Maß, das gerade noch als zeigbar galt. Dieser Prozess, man mag ihn Kompromissbereitschaft nennen oder Opportunismus, zeitigte in den Medien, der Autor dieses Beitrages weiß, wovon er spricht, mitunter Arbeiten, die nicht eben das Lob ihrer Autoren singen. In diesem Falle aber ermöglichte er Winfried Junge und seiner Frau Barbara die Fortführung eines Projektes, das eine große Faszination verströmt. Es ist die einmalige Chance, zufällig ausgewählten Menschen zuzusehen beim Leben, vom ersten Schultag an. Zuschauen, wie Leben vergeht, wie Träume im Wirklichen aufschlagen, wie Lebenswege sich verengen. Und wenn die Protagonisten es auf sich nähmen,
dann sollte jemand drehen, bis der letzte von ihnen beerdigt wird.
Diese Filme sind ein einzigartiges Dokument in Verfolgung dieser konkreten Biografien, sie sind aber auch ein objektives Zeugnis der Selbstwahrnehmung und der Selbstzensur in der DDR. Das gilt für den Regisseur wie für die ihn über Jahrzehnte begleitenden Journalisten.
Das Thema der abschließenden Debatte nutzt die Filme als Absprungbrett einer übergreifenden Diskussion. Einer Diskussion, die uns hier, abseits der Metropolen, mitunter zerreißt zwischen Ignoranz und Selbstkasteiung. Provinz, hat einmal jemand gesagt, ist Selbstgenügsamkeit. Es ist nicht
schlimm, Provinz zu sein, man muss es nur wissen; muss also das Eigene, Kleine nicht für das Große und Ganze nehmen und über dem eigenen Lebensraum nicht den der anderen vergessen. Provinz, ließe sich sagen, auch in Würdigung dieser klugen Reihe, ist schön, wenn man trotzdem denkt.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 2005
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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