Ein Engel steigt herab
Lars von Trier vernichtet Sodom in “ Dogville“
Dort, wo Thomas Edisons Haus steht, da steht Thomas Edisons House. Mit Kreide auf dem Boden. Wir sehen die Menschen in den kreidenen Häusern, wie ein Gott sie sehen mag. Es ist ein kalter Blick, von oben her. Wir sehen, wie er seinen Engel schickt, um die Stadt um ihrer Gerechten willen nicht zu verderben, so sie sich finden lassen. Er findet nicht einen, auch diesmal nicht unter den 15 Bürgern, und so tut er, was er auch damals tat mit dieser anderen Stadt. Es hat sich wohl so sehr viel nicht geändert seither.
Dieser Gott heißt Lars von Trier und er wiederholt hier gleichsam das Exempel von Sodom. Und damit wir bemerken, dass dies eine Versuchsanordnung ist, ein Experiment, wirft er seinen Plan, seine Häuser und Straßen mit Kreidestrichen auf den Boden. Da wohnt der Schriftsteller, der einmal Bücher schreiben will, dort der Blinde, der kennerisch über das Licht an der Ostküste schwadroniert. Dort, dort wird Grace wohnen, der Engel. Und dort Moses, der einzige Hund, der seine Hündischkeit nicht verbirgt.
Einen Film wie diesen hat es noch nicht gegeben. Lars von Trier verfugt in seinem singulären Experiment die Intensität, die Zeichenhaftigkeit des Theaters mit der körperlichen Präsenz, dem Perspektivwechsel des Kinos. Ein Studio, nichts als Kreidestriche auf dem Boden, so sehen Theaterbühnen aus zu frühen Proben, unvorhandene Türen werden pantomimisch geöffnet. Und, das ist das große, das staunenswerte Wunder, irgendwie, irgendwann verschwindet diese Konstruktion und schärft lediglich die Aufmerksamkeit für die Intensität der wunderbaren Schauspieler. Der Däne hat hier eine Höhe des Experimentierens erreicht, von der aus es wohl, in dieser Richtung, nicht weitergeht, einen Schritt mehr, und es verkommt zur reinen Konstruktion.
Diesen einen Schritt nicht getan zu haben, das ist die große Kunst. Nicole Kidman, in ihrer wohl reifsten Arbeit, ist von engelsgleich unschuldiger Anmut, eine unverletzbare Reinheit noch unter riechenden Männern. Und ein Ensemble auf Augenhöhe, alle. Lars von Trier liebt die beschmutzten Engel, die er sonst dem Menschentier opfert, nun schenkt er einer dieser Lichtgestalten eine Rache. Und sie ist so vollkommen, wie die Demütigungen es waren, das Mädchen für alles und alle.
Sind alle Menschen hier so wie Sie?, fragt hoffend Grace. Es sind alles brave Leute, antwortet Tom. Das ist gelogen, denn sie sind alle wie er. Tom will einmal Bücher schreiben, die ein großes Leuchten sind und eine moralische Veranschaulichung. Am Ende, weil er das Schwein unter lauter Hunden, ist sein Ort ein großes Leuchten und sein Ende eine moralische Veranschaulichung.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 2003
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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