Geschichte und Geschichten
Im Kino: “ Die Stille nach dem Schuss“ der letzte DEFA- Film
Der Volkspolizist bricht ein großes Stück der blaue Pappe heraus. »So kommen Sie bis zur Werkstatt« sagt er mitfühlend zu der Fahrerin. Es ist aber gar nicht die Fahrerin, das war die andere Frau und die kann nicht fahren. »Das schöne neue Auto« sagt die Frau, die das schöne neue Auto gegen den Baum gesetzt hat, entsetzt. »Ach was«, sagt die Besitzerin, »heute ist Sonntag«. Ein Hinweis, dass die Besitzerin des himmelblauen Trabant ihre Sozialisation mutmaßlich nicht in der DDR erfuhr.
Inge Viett, das reale Lebensmuster dieser Figur, hat gegen Die Stille nach dem Schuss protestiert. Die RAF-Aussteigerin muss bemerkt haben, dass Volker Schlöndorff und Wolfgang Kohlhaase einem Impuls folgen, der mit ihr und ihrem Leben wenig zu tun hat.
»Dies ist eine Enteignungsaktion« und »Nieder mit dem Kapitalismus« rufen die jungen Leute. Einer steht an der Tür, zwei Pistolen in der Hand.»Komm rein, Oma«, sagt er fröhlich, »hier ist grad Überfall«. Das waren, heißt es, »die heiteren Jahre«. Sie blieben es nicht, es gab Tote. Und die RAF blieb im kollektiven Gedächtnis einer liberalen Gesellschaft eine ungeschlossene Wunde. Dieser Film aber pflegt eine andere Wunde, das ist ein Problem für seine Wahrnehmung in Ost und West.
Obwohl die RAF und die Protektion der Stasi für diese Terrororganisation das Sujet, die Story des Filmes bilden, handelt er im Eigentlichen doch von etwas anderem. Denn die Stille nach dem Schuss, das ist das Schweigen nach dem Ende. Das Schweigen darüber, wie gelebt wurde hier und warum. Wolfgang Kohlhaase, einer der wenigen Drehbuchautoren der DDR, deren Dialogen ihre Herkunft anzuhören war, arbeitet hier noch einmal das Land ab, in dem er lebte. Und Volker Schlöndorff das seine, in dem einmal eine Katharina Blum lebte. Natürlich kann man diesem Film vorwerfen, er eigne sich eine Haltung der deutschen Justiz an, deren Fürsorge den Tätern mitunter mehr zu gelten scheint als den Opfern. Doch, wer ihn genau sieht, seinen Erzählimpuls, seine Haltung, seine Ästhetik auch, wird bemerken, dass es wirklich nicht um die RAF geht. Es geht um die DDR in den Farben der DEFA.
Kohlhaase prägt, und Schlöndorff hat sich wohl gern prägen lassen, mit seinem Buch eine Inszenierung, die die Ästhetik des DEFA-Filmes reproduziert. Eine genaue, weithin authentisch scheinende Beobachtung, Bilder, die sich nicht metaphorisch auffladen, sondern eine irdende Geschichte erzählen, an Gesichtern und Dingen entlang. Die Tristesse des Alltages, in der wiewohl, je länger man sich darauf einlässt, auch Nestwärme zu entdecken ist. Rita Vogt, die Hauptfigur, liebt einen Mann und eine Frau, sie verliert beide, das ist der Preis. Bibiana Beglau und Nadja Uhl, Darstellerpreis der Berliner Filmfestspiele, erzählen mit dieser Liebe eine der berührendsten Geschichten im deutschen Film. Ohne Glimmer und beinahe ohne »Kino«.
Am Ende, fast am Ende, wenn die beiden Stasi-Offiziere (sehr gut, gegen den Trend, Martin Wuttke) die Akten verbrennen, werden die Pistolen eingesammelt, von einem Mann, der Apotheker sein könnte oder Buchhalter. »Was für ein versautes Ende« sagt einer der Männer – und es ist wohl genau das, was Kohlhaase sagen will, wenn er mit dem Blick einer Fremden zurückschaut auf das Land, das einmal das seine war. Natürlich, dieser Film handelt mehr von Psychologie und DDR als von RAF und Politik. Es ist kein nostalgischer Film, dafür ist er zu fragend, mit der Perspektive der Frau von draußen. Ob man sich für diesen direkt erzählten Film interessiert hängt davon ab, ob man sich für die DDR interessiert: Nicht als »historisches Phänomen«, als individuellen Lebensraum. Und dann ist er ein Anregen, ein Fragen. »Alles ist so gewesen. Nichts ist genau so gewesen« heißt es im Abspann. Das ist der Konflikt zwischen Geschichte und Geschichten, der erst in der historischen Distanz eine emotionale Entspanntheit gewinnen wird.
Eine der Terroristinnen wird gespielt von Jenny Schily. Ihr Vater verteidigte damals als Anwalt die RAF und heute als Minister die innere Sicherheit.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 2000
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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