Das Kino als ein Ort der Stille
Andreas Kleinerts schöner, leiser Film neben dem Zeit-Geist
Einmal klingelt das neue Telefon, Entschuldigung, ein Versehen. Einmal brennt das Kleid von Sophie und Georg übergießt sie mit Wasser, schade, so hätten wir doch die Feuerwehr anrufen können. Einmal ruft einer an, es ist Georg, aus der Zelle. Einmal könnte doch jemand anrufen, einmal könnte etwas geschehen. Einmal geschieht etwas in diesem Biotop.
Andreas Kleinert, der Regisseur, ist aufgewachsen in dem wärmenden, ambitionierten Biotop DEFA, in dem er seinen Anspruch bilden konnte, wohl aber kaum seine Filme hätte drehen dürfen. Nun lebt er im kühlen Wind des Marktes, der Kulturpolitik ersetzt durch Finanzpolitik – und wenn diese einmal zu anderen Resultaten führt, so steht doch noch immer die Frage, wer in dieser laut blubbernden Bilder-Welt offen ist für die Bilder der leisen Art. Und so ist dies ein Film für jene, die das Kino als einen Ort der Stille anzunehmen bereit sind.
Kleinert erzählt eine Geschichte aus der letzten Zeitenwende, die DDR ganz hinten, ganz klein, nun wird der Bahnhof geschlossen. „Hier ist Schluß“, sagt die junge Frau, und die Bilder sagen es auch. Sophie und Georg und ihre Mutter leben neben der Zeit, in einer flirrenden Intimität, einer lastenden Geborgenheit, einer sich dem Außen verweigernden Gemeinschaft, die ihre Glieder wärmt und ihnen zugleich das Atmen erschwert. Georg, Sophies Bruder, balanciert sein Leben im Grenzbereich psychischer Normalität, und so betrifft es ihn zuerst, wenn das Leben aus den Gleisen ruckt: Die Schwester verliebt sich in einem sowjetischen Deserteur, und Georg wird es sein, der die Katastrophe auslöst, denn für ihn bedeutet die Veränderung die Katastrophe. Sophie entrinnt ihrer Katastrophe, weil sie Veränderung sucht. Lebensentwürfe in Deutschland.
Andreas Kleinert skelettiert die Geschichte beinahe bis auf ihr archaisches Grundmuster, und so gibt es in dieser ost-deutschen Kleinstadt auch eine bald kathartische Wendung, die Katastrophe bildet den Ausgang des Neuen, und einer zahlt den Preis für die Erkenntnis des Anderen. Kleinert inszeniert mit einem großen Willen zur Form, und er zitiert diese Form nicht nur her, er vermag sie aus eigenem Recht zu behaupten, seine Fähigkeit zur Selektion jeglicher Beiläufigkeit gewinnt eine hoch stilisierte Inszenierung, die ihrem eigenen Kunstanspruch in beinahe jeden Augenblick standzuhalten vermag. Ein hochkonzentrierter Kunstraum, eine intensive Atmosphäre, eine kunstvoll dokumentar wirkende Tonspur und eine Musik, die manchmal Morricones klagendes Harmonika-Motiv zitiert – und manchmal sphärisch auffährt: Und das ist Kleinerts Problem. Der Wille zur Form ist nicht frei von einer gewissen Forciertheit, der Kunst ist gelegentlich die ein Konstruktion eingeschrieben. Das tabusierte Geheimnis der Familie – Sophies Mutter trieb ihren Mann in den Selbstmord durch ihr Verhältnis mit einem russischen Offizier -, ist ein deutliches Konstrukt, zumal wenn der Sohn den Tod des Vaters gleichsam eine Generation später am Geliebten der Schwester rächt, Schuld und Sühne – und ein wenig Mulm und Qualm. Dieser Transparenz des sanft Manirierten, der etwas angestrengten Reduktion von der Ebene des Alltags auf die seiner artifiziellen Ästhetisierung vermag sich die Inszenierung nicht gänzlich zu entziehen – und ist doch die seit langem interessanteste Hervorbringung des deutschen Kinos.
Vor der Kunst-Welt seiner stilisierten Wirklichkeit vermag Kleinert sensibel mit Schauspielern zu arbeiten. Wunderbar in ihrer sensiblen Anmut, ihrer heiteren Kraft Julia Jäger, vor Jahren schon auffallend in Maxim Dessaus Erster Verlust, Mit einer Aura des Geheimnisvollen Rosel Zech, gleichsam Mutter Iokaste in der Wohnküche. Und Sylvester Groth (Der Aufenthalt), mit einer sensiblen Studie des psychologischen Grenzgängers Georg, die sublimierte Erinnerung an Klaus Kinsky.
Dieser Film hat noch in seinen Schwächen mehr Kraft als andere in ihren Stärken. Und deshalb finden Filme wie diese ihren Platz in den Nischen des Fernsehens und der Programmkinos. Es sind Filme neben dem Zeit-Geist.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben Oktober 1996
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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