Der Schnee, der so wärmt
Ein deutscher Film, leise wie fallender Schnee
Das Mädchen hat Angst, der Donner umstellt das Haus mit Grollen. Sie weckt den Vater, doch der hört nicht den Lärm, der ihr auf die Ohren schlägt, er sieht nur die Worte, die sie sagt mit den Händen: „Der Donner macht Krach“. Denn für den Vater bleibt der Donner so schweigend wie die Welt. Nur seine Tochter lebt jenseits der Stille.
Allen Sätzen über diesen Film gehen zwei voran, in dieser Reihenfolge: Das ist ein schöner Film. Und, das hätte ein bedeutender, vielleicht ein großer Film werden können. Indessen, wer wird sich einen schönen Film vermäkeln wollen durch den Vergleich mit dem Film, der er auch hätte werden können. Zumal: Dies ist ein Debüt.
Caroline Link debütiert mit einem schönen, sanften, weichen Blick auf die Welt. Ihr Talent – und wenn es sich fortschreibt, könnte es einmal ein bedeutendes werden -, ist, die Situationen zum Flirren zu bringen jenseits der Worte, ein filigranes Understatement, das ein Bild erzählen, eine Stimmung wirken läßt – zu sensibel, zu intelligent, um diese Bilder im Kitsch zu wässern. So ist, was uns in diesem Film so sanft anrührt wie fallender Schnee auch weniger seine Geschichte, es sind seine Situationen, seine Atmosphäre.
Laras Mutter sieht fern, irgendeinen blöden Film, Liebe und so. Das kleine Mädchen sitzt mit dem Rücken zu den Bildern, die sie nichts angehen und übersetzt simultan in die Gebärdensprache die Worte, die sie nichts angehen.
Die Eltern sind zum Gespräch bei der Lehrerin ihrer Tochter. „Sie kann“, sagt die Lehrerin, „unmöglich versetzt werden, wenn sie nicht besser wird.“ „Sie sagt“, übersetzt Lara mit den sprechenden Händen, „daß ich langsam besser werde.“ Keine Komödie, ein sanfter Humor, unter dem eine leise, unaufdringliche Ernsthaftigkeit liegt. So sind die Eltern abhängig von ihrer Tochter, die ist ihnen die Brücke in die Welt jenseits der Stille.
Einmal, einmal nur, ist der Vater zu hören. Er schreit, gurgelt an der Grenze der Verstehbarkeit „Ich bin ihr Vater!“ Da hat seine Schwester Clarissa gerade gesagt, ihre Nichte müsse nicht wie eine Behinderte leben, nur weil ihre Eltern es sind.
Doch eigentlich erzählt Caroline Link keine Geschichte von Behinderten, wenigstens nicht im landläufigen Sinne. Sie erzählt die Geschichte einer Tochter tauber Eltern, den Aufbruch des musikalisch begabten Mädchens aus dem Schweigen ihres Elternhauses. „Manchmal wünschte ich, du wärst auch taub“, sagt der stumme Vater einmal, „dann würdest du auch in unserer Welt leben“. Doch später, am glücklichen Ende, wird er kommen, um seiner Tochter, sie hat Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule, beim Spielen zuzusehen. Es mag in der wirklichen Welt nicht ganz so harmonisch zugehen, doch ist die Emanzipation des Mädchens eine durchaus ernsthaft erzählte Geschichte, die eher von ihren Impressionen lebt als von ihrer Dramaturgie. Wenn Lara allerdings von ihrer süddeutschen Provinz in die deutsche Hauptstadt gerät, da verweigert sich die Drehbuchautorin Link der Regisseurin Link: Da verlieren die Bilder, die von der Stille handeln, ihre Substanz, dann hat die leise, sensible Figur mit den schweigenden Eltern auch ihre Stille verloren. Dann beginnt eine, beinahe, andere Geschichte, dann muß noch einmal erklärt werden, was wir doch schon sahen, die schöne Tante Clarissa delegiert ihre ungelebten Sehnsüchte auf die Nichte. Und dennoch: Selbst nach dem Ausfall des Drehbuches ist dieser Film noch sehenswert, sind diese Bilder immer noch von einer sanften Anmut – so beglaubigt sich die Regisseurin in ihrem sensiblen Erzähltalent mit ihren wunderbaren Schauspielern – dem Kind Tatjana Trieb und der Französin Sylvie Testud zuschauen zu dürfen, ist das Geld schon wert -, am stärksten, wenn sie nichts, nichts Wichtiges, mehr zu erzählen hat.
Manchmal sieht der Schnee in diesem Film aus, wie von Charles Dickens entlehnt. Aber er ist viel wärmer.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 1996
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
Bilder: Buena Vista
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