Das vergessene Geheimnis
Szabos bunter Bilderbogen
Am Anfang explodiert der Schnaps. Die Destille des alten Aaron Sonnenschein fliegt sehr schön durch die Luft. Sein Sohn Emmanuel findet das schwarze Buch mit der geheimen Rezeptur des Schnapses »Sonnenschein« in den Trümmern, es wird seine Zukunft sichern. Später, drei Stunden und über einhundert Jahre später, werden wir das schwarze Buch sehen, wie es achtlos in ein Müllauto geworfen wird. Der junge Mann, es ist der Urenkel dessen, der das schwarze Buch fand, wird es nicht mehr benötigen, er wird seinen eigenen Weg gehen. Solcher Art sind die dramaturgischen Zirkel, die Istvan Szabo rhythmisch in seine Geschichte schlägt. Für diese Geschichte und für diese Bilder gab es zwei europäische Filmpreise, Ralph Fiennes erhielt zudem den Darstellerpreis. Diese Ehrungen sprechen nicht für diesen Film, sie sprechen nur gegen die Situation des Filmes in Europa. Und die Rezeptur des Schnapses ist beinahe das einzige Geheimnis dieses Filmes.
Istvan Szabo hat seit Jahren keinen Film mehr inszeniert. Nun, mit diesen drei Stunden, wollte er wohl die Summe ziehen, die seiner Kunst wie die seines Lebens. Die Glätte der Bilder aber, das plane Gleichmaß des Erzählens, die Aufdringlichkeit der Metaphern, die vollkommene Abwesenheit eines wirklich künstlerischen Impulses wirken nachgerade schmerzhaft bei einem Künstler, der einmal einen »Mephisto« konnte. Szabo erzählt, mit seinem eigenen Buch, wie alle Ideologien Monarchie kommt vor, Nationalsozialismus, Kommunismus , die Menschen verwurstet, verwertet und vernichtet haben. Das ist richtig, aber das ist kein Film. Der bedürfte einer Geschichte, die mehr ist als die Illustration historischer Abläufe. Einer Geschichte, die sich behauptet aus eigenem Recht, aus dem Recht ihrer Figuren. »Mephisto« war nicht solch ein Film, weil wir gesehen haben, was ein totalitäres Regime machen kann aus einem Menschen: Er war es, weil wir diesen Menschen sahen. Die Saga der ungarisch-jüdischen Familie Sonnenschein bedeutelt sich so durch drei Stunden hindurch. Und wenn Szabo einfällt, was ihm noch fehlt an der historischen Vollständighkeit, dann zieht er dieser Leerstelle ein Kostüm an und schickt sie vor die Kamera. Lauter dramaturgischeMarionetten.
Ignatz, der Enkel des explodierten Schnapsbrenners, heiratet seine Cousine Valerie und macht Karierre als Jurist, hier eine kleine Vertuschung, da den jüdischen Namen abgelegt, so strampelt er sich durch die Milch, da bricht die Monarchie zusammen. Und, das gehört zur historischen Vollständigkeit, natürlich hat er einen linken Bruder. Sein Sohn Adam, ein begnadeter Fechter, wird Landesmeister und Olympiasieger, 1936. Später, in einem KZ, werden sie ihm beibringen, was er wirklich ist.
Adam hängt in dem Baum, es ist Winter und er soll bekennen, was er ist, ein Judenschwein. Und sterbend schon flüstert er »Ungarischer Olympiasieger«. Da besprühen sie den nackten Mann, schon beinahe zu Tode geschlagen, mit Wasser. Das legt sich wie Spinnweb um ihn, wie tödliche Folie, leise knackt das Eis, und unter dem durchsichtigen Panzer sehen wir das Gesicht des Schmerzenmannes. Und denken, wie lang sie wohl gearbeitet haben, ehe das Eis sich so knisternd in den Bart legte. An dieser Szene scheitert der Film exemplarisch, denn sie läßt so kalt, wie das kunstgewerbliche Eis. Und hier ist es auch ärgerlich, da sich das Kunstgewerbe an einem solchen Sujet vergeht. Eindrücklicher wird nirgendwo offenbar, dass Szabo für seine Figuren keine künstlerische Inspiration zur Verfügung hatte, kein Gefühl, keine Leidenschaft.
Ivan, Adams Sohn, sah die Ermordung seines Vaters hilflos mit an, nun, im kommunistischen Ungarn, jagt er die Faschisten, wird Mitglied der Partei. Bis er seinen Vorgesetzten, einen Auschwitz-Überlebenden, verhören muss, bis es wieder gegen die Juden geht. Da verlässt Ivan die Partei und steht, 1956, auf die Straße gegen die Panzer mit dem roten Stern. Und natürlich hält er eine Rede und natürlich wird er den jüdischen Namen wieder tragen.
Ralph Finnes, in drei verschiedenen Rollen, ist wie der Film, redlich, aber uneindrücklich. William Hurt als einziger erschafft eine in sich widersprüchliche Figur, den Juden, dessen Weg vom Opfer zum Täter und zurück führt. Einzig diese Figur hat ein Geheimnis, ein Unaufgelöstes, eine unbeantwortete Frage. Nicht, weil sie ein Symbol ist, nicht weil sie historisch zutreffend ist: Weil der Schauspieler William Hurt seine kleinere Rolle gegen den Film zu behaupten vermochte, indem er ihr ein Geheimnis schenkte.
Ein Geheimnis, das Istvan Szabo vergessen hat.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 1999
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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