Vor 30 Jahren: „Die Legende von Paul und Paula“
Gestern war Angelica Domröse in Erfurt. Eine interessante Frau, die ihr Alter nicht verbergen will. Die es aushält, dass die Menschen, die in ihre Lesungen kommen die real existierende Frau vergleichen mit der, die ihre Erinnerungen besiedelt. . .
Nächte hat Paul vor Paulas Tür geschlafen, unrasiert, das Neue Deutschland unterm Kopf. Tage ist Paula über ihn hinweg gestiegen, um den Reifenfritzen reinzulassen, der ihr und ihrem verbliebenen Kind die Zukunft sichern soll. Jetzt reicht es. Jetzt klingelt Paul bei der Nachbarin, eine freundliche alte Dame. Gute Frau, fragt er, ob es wohl ein Beilchen hätte? und er fragt es mit der wohlerzogen schmeichelnden Stimme des jungen Mannes, der weiß, was sich bei einer Dame schickt. Dann splittert das Holz. Und dann schreit Paula Nein und schlägt auf ihn ein, wie ein Mensch, der sich noch einmal aufbäumt gegen eine Welle, die ihn unweigerlich begraben wird. Und dann fällt sie ihn um den Hals und zerreisst ihn das Hemd auf den Rücken vor Lust und Sehnsucht und Glück und Befreiung.
Dieses Bild, das Bild des weißenden reissenden Hemdes des Mannes aus dem Ministerium und der lustvollen Selbstbestimmung der Frau aus der Kaufhalle, das ist geblieben. Das ist eingelagert im kollektiven Gedächtnis der Ostmenschen, sofern sie das entsprechende Alter haben. Dieses Bild war gleichsam der emotionale Höhepunkt der Legende von Paul und Paula. Heiner Carow hatte in jenem Jahr 1973 einen Film geschaffen, der gegen alle geltenden Konventionen verstieß. Weniger ästhetisch, da war Carow ein eher konventioneller Mann mit einer gewissen Liebe zum Effekt, aber als Haltung. Denn Carow sang, und die Domröse machte ihm die erste Stimme dazu, das Hohe Lied von der Lust der Unvernunft, erzählte von einem so rasenden Glückverlangen, dem keine Vernunft gilt und keine Räson und keine Konvention. Was Karriere, was Kampfgruppe, was Partei, was unsere Republik. Das Menschenrecht auf Glück bricht sich rasend Bahn gegen alles, was als vernünftig gilt und üblich. Dieses Bild erschaffte dem Aufstand der Gefühle einen rasenden Augenblick des Triumpfes. Dieser Augenblick und dieses Bild sind von Dauer.
Was wirklich dauert, das bestimmt weder die Kunstwissenschaft noch die Kritik. Diese Entscheidung trifft ein Gremium, wie es demokratischer nicht zu denken ist, und diktatorischer auch nicht: das Volk. Deshalb wohl sind die Lesungen mit der Frau, die Paula war, so gut besucht, deshalb findet sie noch immer Dankbarkeit.
Gestern war Angelica Domröse in Erfurt. Morgen vor 30 Jahren wurde der Film ihres Lebens uraufgeführt.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 28.03. 2003
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
Bild: Icestorm
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