Die kindliche Kaiserin
Es ist ein Banküberfall im finalen Stadium. Ein Mann liegt sterbend in der Ecke und einen der beiden anderen wird es in Sekunden ereilen. Da tritt die Frau zwischen die beiden Männer und die Pistolen, die sie aufeinander richten. »Sie können jetzt nicht schießen«, sagt sie zu dem Sicherheitsbeamten, »das ist nicht der Plan«. Das Mädchen ahnt etwas von dem großen Plan des Schicksals, es ahnt, dass er aufgehen könnte. Denn Tom Tykwer hat ihn entworfen.
Es gibt im Augenblick keinen anderen deutschen Autorenfilmer, der mit einem solch souveränen Formbewußtsein schreibt und inszeniert, der eine Story so konsequent auf ihre schließliche filmische Gestalt hin entwirft, dass die Geschichte ausserhalb ihrer Form im Grunde nicht existiert. Wer Tykwers »Lola rennt« noch für nichts hielt, als eine substanzlose Langmetrage der Videoästhetik, lernt es bei »Der Krieger und die Kaiserin« anders. Denn Tom Tykwer vermag die ästhetischen Maßgaben der Cola-und Fast-Food-Generation zu verbinden mit den Geheimnissen des Kino-Märchens.
Die Frau liegt auf den Tod unter dem Lastwagen. »Eigentlich«, sagt ihre Gedankenstimme, »fand ich Stille immer schön. Aber die nicht. Hier fehlte was. Mein Atem«. Der Bursche, er ist gerade auf der Flucht, das Ding an der Tankstelle ist schief gelaufen, nimmt einen der Umstehenden das Trinkröhrchen aus dem Colabecher. Dann schneidet er, in der tiefen Einsamkeit unter dem Wagen, mit dem Taschenmesser ein Loch in den Hals der Frau und steckt das Trinkröhrchen hinein. Der Rhythmus des Herzschlages treibt blutige Blasen. Da saugt der Junge das Blut aus dem Cola-Röhrchen. Dies ist der einzige Austausch von Körperflüssigkeit und der Beginn einer wundersamen Liebe.
Simone, die sie Sissi nennen, weil sie die Filme mit der Kaiserin liebt und Bodo, der entlassene Krieger, der einen Banküberfall plant. Sie weiss noch nichts von der Liebe und er will nichts mehr wissen davon. So treibt er sie, als sie ihn sucht in seiner alten Hütte, rüde in den Regen zurück. Und so kommt sie zurück und klopft an und sagt »Das geht so nicht«. Und dann zeigt Tom Tykwer, wie es geht.
Wo Lola vordem hechelnd rannte, lässt er Sissi träumend wandeln. Franka Potente spielt, so zu sagen, die reine Torin. Unberührt von Schmutz und Schlägen geht sie durch dieses Märchen von Schicksal und Bestimmung. Unberührt und rein bleibt sie, wenn sie einem ihrer Patienten in der Psychiatriewo, sensibel inszeniert, sich das Elend der Welt im Halbkreis versammelt, Erleichterung mit der Hand verschafft. Die heilige Johanna der Psychiatrie,und die steht in Wuppertal.
Tom Tykwer kann all sein Handwerk zu einem kleinen Wunder bündeln. Er kann Wuppertal,Wuppertal!, in einen Märchenort verwandeln, er kann poetische Räume schaffen, in denen die Gesetze des Wirklichen aufgehoben sind, er kann die Kamera auf den Kopf stellen und aus einem Briefkasten lauern lassenund niemand fragt: wieso? Dieser Film schwebt über dem Wirklichen. Und er stürzt nie ab, und er schlägt nie auf.
Der Patient, den Sissi so half mit ihrer Hand, hat die Polizei gerufen und er hat eine Frau getötet. Jetzt steht er auf dem Dach und will springen. Da sehen sich der Krieger und die Kaiserin an und nehmen sich an den Händen und springen. Und leben. Warum? Weil dies ein Märchen ist. Und weil Tykwer dem Kino etwas zurück gibt, das es in Deutschland schon lang verloren hat: Sein Geheimnis.
Neben der ausgezeichneten Franka Potente zeigen Benno Fürmann und Joachim Krol, dass sich inmitten eines großen Aufkommens an Inszenierung, an Gestaltungswillen eines Regisseurs, darstellerische Substanz zu behaupten vermag, wenn denn der Regisseur und die Schauspieler danach sind.
»Von welchem Stern«, fragt der Krieger die kindliche Kaiserin, »kommst du eigentlich?«Man weiss es nicht so genau, aber man hält es für wünschenswert, dass es einen solchen Stern geben möge. Irgendwo in Phantasien. Im Kino.
Autor: Henryk Goldberg
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