Zum Sterben schön
Lars von Trier und das heilige Licht
»Du siehst nichts, oder?« sagt Jeff, als Selma ihn bittet, die Schienen zu verlassen, auf denen er gar nicht steht. Da wirft sie die Brille weg und beginnt zu singen. Und fährt mit Jeff auf dem Zug, der eben noch so bedrohlich schien. Die Arbeiter tanzen auf den Waggons, am Rande weiden die Schafe, vor einem Haus küsst sich ein Paar unter der trocknenden Wäsche. Und weiße Wolken treiben unterm blauen Himmel. Doch, Selma sieht. Sie sieht nur anders. Dieser Film ist ein Sonderfall und er verdankt sich der kreativen Kollision des Regisseurs Lars von Trier mit der Sängerin Björk. Der ursprüngliche Prophet des die filmische Askese predigenden »Dogma«, ist einer der wichtigsten Regisseure des europäischen Kinos und er ist es, weil er in dem Stande ist, seine eigene Theorie leichthändig außer Kraft zu setzen, während seine Exegeten noch die reine Lehre debattieren. Denn eigentlich geht dieser Film gar nicht. Eigentlich pflegen die Personen eines Sozialdramas nicht zu tanzen und zu singen. Eigentlich ist es weit hinter jeder Grenzlinie des Geschmackes, wenn eine Frau unterm Galgen schreit, kreatürlich wild schreit – und schließlich zu singen beginnt: So schön, so rein, so klar, so seelenvoll. So zum Sterben schön. Es ist wohl das Geheimnis dieses Filmes, dass er es, jenseits aller Debatten, vermag, sich in jenen Bezirken des Zuschauers anzusiedeln, in denen Debatten nicht mehr geführt, Argumente nicht mehr gehört werden. Es sind jene Bereiche, in denen der Mensch nicht mehr prüft, nur noch glaubt.
Bereits »Breaking the wave«, das erste Melodram des Dänen, atmete einen Hauch von Religion. Streichelte Lars von Trier dort die Heilige Hure, so kniet er hier vor der Heiligen Mörderin. Frauen, die sich selbst darbieten auf dem Altar der Liebe, für den Mann, für das Kind. Opfer, die bestenfalls einen Heroismus des Herzens verkünden, denn sie werden für keine Idee erbracht ausser der der Liebe. Opfer, denen in ihrer Radikalität etwas Jenseitiges eignet, etwas, nun ja, Göttliches. Ob dies eine professionelle Attitüde ist, ob eine tatsächliche Haltung des zum Katholizismus konvertierten Exzentrikers wird nur er selbst wissen, vielleicht.
Selma also, die tschechische Immigrantin, spart in den USA jeden Cent, es gibt keine Geburtstagsgeschenke für den Sohn, nichts, das Fahrrad schenken die Nachbarn. Selma wird unaufhaltsam erblinden und ihr Sohn auch – wenn er nicht operiert wird. Sie hat die Dollars beinahe beisammen, in einer bunten Büchse. Doch der Nachbar stiehlt das Geld unter den toten Augen der so gut wie blinden Mutter. So zwingt er sie, zum Töten, für den Sohn. Und Selma verrät, mit dem Tod bedroht, nicht ihr Motiv: Es könnte, vielleicht, ihrem Sohn schaden, wenn er von seiner Krankheit wüsste vor der Operation.
»Wieso«, fragt Jeff, »fangen die auf einmal zu tanzen an?«. Obwohl die Frage richtig ist, ist es die falsche Frage. Denn sie bewegt niemandem, nicht wirklich.
Das sind eigentlich zwei Filme und das wundersame ist, wie sie sich in eines fügen. Der eine ist ein sozial orientiertes Melodrama. Er erzählt in der Manier des seine Authentizität pflegenden Dokumentarfilmes; so tastend, so suchend, erkundet die sich dokumentar gebende Kamera Räume und Gesichter. Bleiche Farben, verrissene Bilder, unvollkommene Ausschnitte. Und dann hält Lars von Trier die Welt an. Dann singen, dann tanzen sie. In der Werkhalle, auf den Eisenbahnschienen, auf dem Weg zum Galgen und darunter auch. Und die Geräusche der Banalität, der Rhythmus der Maschinen, die Schritte der Wärter sind der assoziative Pfad in das wundersame Land der Träume. Die Frau halluziniert sich aus der Welt, sie singt und tanzt und wird so, für Momente, unberührbar durch die Welt. Das ist es wohl, was man heilig nennt.
Björk, die die Musik schrieb, ist eine professionelle Sängerin, als Schauspielerin ist sie Amateur. Und wunderbar. Ungeschützt bietet sie ihr nacktes Gesicht dar, dass es manchmal ist, als würde selbst die Kamera weinen um sie. Sie prallt mit diesem Schicksal zusammen ohne Gegenwehr, sie öffnet sich, um zu leiden. Und wenn sie singt träumend, sehen zu dürfen, träumend, leben zu dürfen , dann ist es mitunter tatsächlich zum Sterben schön.
Die surrealen Musical-Szenen dämpfen die Realität des anderen Filmes, besänftigen sie. Es mag auch daran liegen, dass der Autor, im Ernst, nicht zum Weinen kam, vielleicht auch, dass die Konstruktion gelegentlich durchzuschimmern scheint, der Rhythmuswechsel ist doch eher ein cineastisch bewundernswerter als seelisch bewegender Vorgang. Vielleicht ist zum Sterben schön ein wenig zu schön beim Sterben. Dennoch, ein wundersamer Film mit magischen Momenten auf dem Gesicht dieser Künstlerin. Ein Gesicht, auf dem dann die ästhetische Theorie verbrennt in einem heiligen Feuer.
Einmal, vor Gericht, sagt ein alter Mann, von dem Selma behauptet, er wäre ihr Vater, er sei einmal ein bekannter Schauspieler gewesen. Es ist Joel Grey, der Confroncier aus »Cabaret«. Vielleicht offenbart diese Besetzung einen Traum des Regisseurs. Einen Traum von einem Film, den er gern gemacht hätte.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben Oktober 2000
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
Bilder: Constantin Film
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