Über die Regeln
„Gottes Werk und Teufels Beitrag“ – mit sieben Oscar-Nominierungen deutlich überschätzt
Niemand von den schwarzen Apfelpflückern, Maine, 1943, ist des Lesens kundig. So bitten sie Homer Wells ihnen die „Cider House Rules“ vorzulesen, die Regeln, der alten Holzhütte, darin die Männer leben, die den Apfelsaft herstellen. Die Regeln besagen, zum Beispiel, dass das Mittag nicht auf dem Dach einzunehmen und das Rauchen im Bett verboten ist. „Das sind nicht unsere Regeln,“ sagt einer der Schwarzen, er liegt auf dem Bett und raucht. Da reißt Homer das Blatt von dem alten Nagel in der Wand und verbrennt es. Regeln sind für die Menschen gemacht, nicht gegen sie. Und es gibt verschiedene Regeln und manchmal muss man die Regeln ändern, an die sich zu halten einer gesonnen ist. Homer Wells weiß das bereits, er hat die Abtreibung für Rose gemacht. Denn in der Gottes-Regel war der Vater als Verursacher der Schwangerschaft seiner Tochter nicht vorgesehen.
Dieser Film von Lasse Hallström, den John Irving nach seinem eigenen Roman schrieb, wurde für sieben Oscars nominiert und ist damit deutlich überschätzt. Gewiss, Michael Caine, nominiert als bester Nebendarsteller, bietet eine gediegene Leistung von unprätentiöser Zurückhaltung, es handelt sich aber um eine schauspielerische Arbeit, deren Qualität sich wohl an einem Dutzend deutscher Theater finden ließe. Und die Vermutung nun, es könnte sich um eine „beste Regie“ oder gar um einen „besten Film“ handeln, erscheint grotesk.
Lasse Hallström, der den schönen, verschrobenen „Gilbert Grape“ drehte, hat einen durchaus angenehmen, durchaus gediegenen Film inszeniert, den zu sehen einem hinreichend sensiblen Publikum zwei unverlorene Stunden bescheren dürfte. „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ vermittelt das Behagen eines Spitzwegs und die Betroffenheit auch. Und das, obwohl er in einem Land spielt, da Krankenhäuser und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, schon mal von einer Bombe getroffen werden. Und vielleicht auch eben darum die Nominierungen: Es ist so schön kuschelig. Immer, wenn ein fremdes Auto kommt, machen sich die Kinder schön, ein Lächeln, einen Scheitel: Wer Glück hat, wird adoptiert. Curley packt immer einen Koffer, vielleicht, dass ihn einmal jemand mitnimmt in ein richtiges Zuhause. „Ich bin der Beste,“ sagte er einem jungen Mann, aber die Frau hat schon ein Kind, in sich, und will es nicht. Und Curley ahnt wohl, wie es um die Kinder hier steht: Sie sind die Übriggebliebenen. Die Nichtabgetriebenen. Was von den anderen blieb, wird im Ofen auf dem Hof verbrannt.
Dr. Wilburg Larch, der Leiter des Waisenhauses (Michael Caine) vollbringt Gottes Werk und Teufels Beitrag, er bringt die Kinder auf die Welt und er hindert sie daran. Den Überlebenden ist er ein Vater. Homer Wells, eines seiner Kinder, wird ihm zum Assistenten, Homer entbindet Frauen und er verweigert die Abtreibung. Homer hat noch nie das Meer gesehen, und nur einen Film, „KingKong“, sie spielen ihn immer im Waisenhaus. So geht er in die Welt, sich seine Regeln zu erarbeiten, dann wird er zurückkehren in das Haus und es leiten nach den Regeln, die er erwarb. Sie stehen auf keinem Zettel.
Dieser Film ist von einer atmosphärischen Noblesse, er ist außerordentlich schön, wenn er die Kinder zeigt und er ist von einer nachgerad verstörenden Harmlosigkeit, die irgendwann beginnt, die Gediegenheit seiner Bilder auszuhöhlen. So wird offenbar, dass, wenn der Stoff es verlangt, auch Haltung eine ästhetische Kategorie zu werden vermag.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben: 1999
Text: veröffentlicht in filmspiegel
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