Wirklicher als wirklich
„Final Fantasy“ will der erste Realfilm aus dem Computer sein. Die neuen Bildwelten sind vor allem eins: langweilig
Eine der merkwürdigsten Fragen, die sich im Kino stellen, ist die nach der „künstlichen Realität“. Man meint damit den Siegeszug des computergenerierten Bildes, das nicht mehr „erbeutet“ oder wenigstens nachgestellt ist, sondern wie aus eigenem Recht erstellt ist, Bildpunkt für Bildpunkt. Das Material dieses Bildes ist weder der Körper noch die Schrift, weder Erfahrung noch „Sinn“, sondern einfach „Information“. Eigentlich wäre also in dieser neuen Bildwelt alles, oder doch eine ganze Menge, möglich. Der Filmemacher könnte mit Hilfe seines Computers so frei und wild träumen wie ein Schriftsteller, ohne Rücksicht auf das, was man im Newton-Kosmos nachbilden kann und was nicht. Freilich: Die künstliche Wirklichkeit wird weniger in dem einen oder anderen Kopf erzeugt, sondern auf einem globalen Markt. Und was könnte die Virtual Reality dort anders darstellen als das, was als „Realität“ in unseren Durchschnittsköpfen ist? Die künstliche Wirklichkeit hat kaum einen anderen Ehrgeiz, als mit den anderen Erzählwirklichkeiten um Glaubwürdigkeit und Aufmerksamkeit zu konkurrieren. Final Fantasy, der nächste Crossover-Film zwischen Kino und Videogame, protzt denn auch nicht mit seinen besonders scheußlichen oder dämonischen Monstern, sondern mit den 30 000 Haaren seiner Heldin, von denen jedes Einzelne von endlosen Rechenketten bewegt wird. Bis in die Haarspitzen hinein also möchte es dieses Computerwesen seinem menschlichen Vor-Bild nachmachen. Kein Wunder, das uns im Kino unentwegt vor jeder Art von künstlichen Menschen graut.
Vielleicht ist das die entscheidende Frage für die Zukunft unserer Kultur. Im Augenblick jedenfalls wird der Bilderwettstreit weniger auf dem Gebiet der Kunst und noch weniger auf dem Gebiet der kritischen Reflexion ausgetragen, sondern vielmehr auf dem Gebiet der Unterhaltung für Kinder. Genau genommen spielt sich der Kampf um das Bild des Wirklichen ab zwischen den populärsten und umsatzstärksten Bildermedien der Kinder- und Jugendkultur, zwischen Hollywoods Leinwandträumen und der Pixel-Kunst der Computerspiele.
Die Hollywood-Wunderknaben George Lucas und Steven Spielberg haben in den späten siebziger Jahren den franchise film entwickelt, also einen Film, der durch seinen enormen Erfolg in der Mitte der Gesellschaft und insbesondere bei den jugendlichen Konsummotoren eine endlose Kette von Medienmultiplikation und Vermarktung in Gang setzt. In dieser Kette nun hat das „heiße Medium“ Film zumindest seine wirtschaftliche Schlüsselrolle bereits verloren. Die Fabrikation der Bilder kreist jetzt in Form des endlos geflochtenen Bandes um zwei gleichwertige Zentren (während man die Einflüsse von den Rändern, von Literatur, Comics, Fernsehen, bereitwillig mitnimmt). Schon ist ein griffiger Begriff für das neue Genre entstanden: „Playstation-Movie“.
Final Fantasy will der erste computergenerierte „Realfilm“ sein; die digitale Bildermaschine will nicht mehr Spielzeug abbilden, kein sprechendes Getier, keine märchenhaften Seelenwesen, sondern Menschen „aus Fleisch und Blut“, täuschend ähnlich oder vielleicht schon wirklicher als wirklich. Na ja, vielleicht beim nächsten Mal! (Jeder Crossover-Film ist auch ein Versprechen auf den nächsten, der um so viel bessere Simulationen bieten wird, wie ein Jurassic Park-Film den anderen durch seine Saurier-Effekte aussticht.) Der Kinofilm Final Fantasy ist eine Episode in der langen Erfolgs- und Vermarktungsgeschichte einer merkwürdig hybriden und in sich gebrochenen Spielidee. Es gibt nicht einmal so etwas wie ein Final Fantasy-„Universum“ wie bei früheren multimedialen Bildwelten. Stattdessen bildet eine „Philosophie“ den Zusammenhang: In wechselnden Mischungen aus Esoterik, Action, Science-Fiction und Fantasy erzählt jedes Spiel eine abgeschlossene Geschichte, und die Gestalten, in deren Rollen man als Spieler schlüpfen darf, sind nicht einfach nur durch ihre Fähigkeiten charakterisiert (der eine ballert, der andere zaubert und so weiter), sondern sind ausgeformte Charaktere mit Vergangenheit und, ja, auch so etwas wie Gefühlen.
Die Final Fantasy-Spiele der ersten Trilogie erschienen von 1987 bis 1990 vor allem auf dem japanischen Markt und boten ein grafisch höchst einfaches, aber dramaturgisch überdurchschnittlich ausgeführtes Rollenspiel. Eine kleine Sensation bot erst Version Nummer vier, die im Jahr 1991 herauskam und mit ihrer ausgefeilten Bildästhetik und dramaturgischen Rafinesse Staunen und Spielen miteinander zu verknüpfen wusste. Der Knüller auf dem Weltmarkt wurde dann 1994 Final Fantasy 6. Die Bilder dieses Computerspiels waren bereits den meisten anderen Erzeugnissen der Kinderkultur semiotisch überlegen. Nur das Kino war noch „reicher“. Diese neue Ästhetik des Mediums (Spielen und Staunen) hatte sich mittlerweile gegenüber den „Abstraktionen“ à la Tetris und den Funnys in der Art der Mario Bros. so weit durchgesetzt, dass diese Final Fantasy-Version zu den umsatzstärksten Spielen der Mittneunziger gehörte. Von einer Märchen- und Fantasy-Saga hat sich das Spiel mittlerweile zu einer reinen Science-Fiction-Serie gewandelt. Bei Final Fantasy 8 (1999) begannen die Charaktere allmählich, ihre asiatischen Gesichtszüge zu verlieren, und die dreidimensionale Wirkung der Bilder wurde durch eine neuartige Führung der (virtuellen) Beleuchtung betont. Momentan ist Nummer zehn der Spieleserie in Arbeit; sie wird nicht an den Film angelehnt sein. Dabei geht es um das Fantasy-Paar Tidus und Yuna, deren Stimmen von populären Schauspielern in jedem einzelnen Land der Vermarktung beigesteuert werden. Denn so wie das Kino sich mehr und mehr von der Ästhetik und Technik der Videospiele beeinflussen lässt, so sehr zieht die Videogame-Industrie umgekehrt Potenziale der alten „Traumfabrik“ an: Schauspieler wie Bruce Willis leihen ihre Physiognomie für die Entwicklung digitaler Helden, und die prominenten Synchronstimmen werden wie im Animationsfilm immer mehr zum Verkaufsargument.
Allerdings ist man da nicht kleinlich. Die Charaktere des Kinofilms Final Fantasy entsprechen einem Sampling bekannter Schauspieler. Während der Begleiter und Lover der Heldin Aki Ross als Ben-Affleck-Plagiat durchgehen kann, scheint die Heldin selbst eine Mischung aus Wynona Ryder, Sandra Bullock und anderen östlichen und westlichen Schönheitsidealen zu sein. Der Regisseur Hironubo Sakaguchi gibt bereitwillig zu, dass die Mimik realer Schauspieler mithilfe eines speziellen Programms in die der digitalen Darsteller eingearbeitet wurde. Stuntleute werden überdies in ihren Bewegungsabläufen durch das Motion-Capture-Verfahren gescannt. Kurzum: Die neue Bildwelt bedient sich so schamlos bei den alten „analogen“ Bildern, wie diese sich bemühen, ihre schönen neuen Nachfolger zu imitieren. Das Kino, das von nichts als dem einen oder dem anderen lebt, droht höchst langweilig zu werden; spannend ist der ständige Übergang, das immer neue Mischwesen.
Die Spiel-, Pardon: Handlungsidee von Final Fantasy ist denkbar schlicht: Im Jahr 2065 ist die Welt von einem Meteoriten beinahe zerstört worden, die übrig gebliebene Menschheit muss sich gegen eine Invasion von Weltraumwesen zur Wehr setzen. Die Wissenschaftlerin Aki Ross ist von einem der fremden Wesen infiziert (das kennen wir schon – aus den letzten Alien-Folgen) und kann so erkennen, dass es sich nicht um Invasoren, sondern um die unglücklich getriebenen Geister der Bewohner eines untergegangenen Sterns handelt. Den virtuellen Menschen stehen noch viel virtuellere, amorphe Wesen gegenüber. Mehr aber wird aus der Idee nicht gemacht, ganz so, als müsste es sich dieses Kino (noch) verbieten, über Wesen nachzudenken, die einen virtueller und vielleicht transzendentaler sind als sie selbst. Während Aki mit ihrem Mentor Dr. Sid und einer Gruppe getreuer Freunde eine neue Strategie gegen die Fremden fährt, versucht der finstere General Hein, der an einen deutschen Faschisten erinnert, den Planeten vorsorglich zu vernichten. Die Rettung gelingt, verlangt aber ein paar drastische Opfer.
Der Film Final Fantasy hat zunächst mit der Serie kaum etwas zu tun, keine Spielfigur taucht im Film auf, keine Filmfigur war auch nur in einem der Spiele vorgeahnt. Damit entgeht er zumindest teilweise der Gefahr, im Zuschauer den frustrierenden Eindruck zu erwecken, man sehe bei einem Videospiel zu, bei dem ein anderer den Joystick führt. Die Schlichtheit der Charaktere und der Handlung ist natürlich Programm. Während andere computergenerierte Filme wie Shrek ihre neue digitale Ästhetik in altmodischen Bildwelten verstecken, akzeptiert Final Fantasy auch in seiner Geschichte die technologische Zukunft, um sie in Art der klassischen Katastrophenfantasien inneren und äußeren Feinden auszusetzen. Aber auch hier „maskiert“ sich das eigentlich Neue: Die technisch-ästhetische „Sensation“ kommt daher wie ein fotorealistischer Comicstrip mit einer geschwätzigen Hörspielbegleitung. Es ist immer eine Art „Lüge“ um die computergenerierten Bilder. Als müssten sie sich dümmer und harmloser stellen, als sie sind.
Final Fantasy ist auch ökonomisch gesehen ein Beispiel für die Verbindung der Bildwelten auf dem Mainstream-Markt. Mit der japanischen Firma Square ist zum ersten Mal eine Videospiele-Firma selbst zum Filmproduzenten geworden, und nicht nur die Techniker, sondern auch die Drehbuchautoren und Regisseure entstammen dem Metier. Der Produzent Jun Aida, das Oberhaupt von Square Studios, produzierte bereits die Realfilmumsetzung des Computerspiels Street Fighter mit Jean Claude Van Damme, der Regisseur Hironobu Sakaguchi schuf die Spiele der Final Fantasy-Serie. Die Computerspielbranche ist also nun selbstbewusst genug, sich nicht mehr auf einen Rechte-Transfer einzulassen, sondern selber ganze Segmente der Traumfabrik zu besetzen.
Das Wuchern der elektronischen Bewegungsbilder, ihr Wandern durch Medien und Kulturen, die schiere Unmöglichkeit, technisch wie ökonomisch bedingt, sie wieder zu „löschen“ oder sie im imaginären Museum zu „speichern“, sie „Vergangenheit“ werden zu lassen – das alles mag die Wirklichkeit der Bilder mehr verändern als die Bilder der Wirklichkeit. Wenn es die nämlich überhaupt gibt, dann ist es ihr ziemlich gleichgültig, mit welchen technischen und „philosophischen“ Mitteln sie repräsentiert oder verfehlt wird. Die Wirklichkeit des Kinos aber muss sich fundamental verändern. Schon arbeitet man bei Sony an einer „Gamecard“, die wie eine Scheckkarte für „Moviegames“ funktioniert, die online angeboten werden. Damit vernetzen sich die Spiele nicht nur weiter, sie nähern sich dem Kino auch in ihrer Konsumtionsweise an: Man zahlt für ein mehr oder weniger einmaliges Erlebnis, das sich gleichwohl endlos fortsetzen kann.
Das Bewegungsbild selbst, wie der Ort, an dem man es geschehen zu lassen pflegt, löst sich weiter auf. Das Playstation-Movie generiert beständig ihm ähnliche Bilder und wird in sich beweglich; nicht nur im nächsten Medium, schon in der nächsten Vorstellung ist es ein anderes geworden. So wie die Spielwelten durch ihre add-ons wuchern, abgesehen von den tatsächlichen Fortsetzungen, so wuchern auch die Filme nicht nur durch die Sequels und die multimedialen Vermarktungen, sondern auch durch die special editions, Varianten und digital aufbereiteten Cut-Versionen, auf der DVD zum Beispiel. Der Film im Kino ist also einerseits, syntagmatisch, nur noch eine Version von vielen eines Bewegungsbildprozesses und paradigmatisch nur eine Station einer ikonografischen Entwicklung unter anderen, bei der in weiten Bereichen das Videospiel die Form bestimmt. Von so etwas wie einem Inhalt ganz zu schweigen.
Georg Seeßlen, DIE ZEIT 22.08.2001 Nr. 35
Bild: Sony Pictures Home Entertainment
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