Es gibt zwei Arten von Einstellungen eines Films, für die sich die ganze leidige Kinogeherei und Videoguckerei eines Lebens lohnen. Die eine Einstellung, das ist das Bild in Bewegung, das einem einen Blick in etwas völlig anderes, eine reine Kunstwelt, ins Drüberhinaus des Lebens gestatten, »Szenen aus einer Parallelwelt«, wie Jacques Rivette eine Reihe seiner Filme genannt hat. Nichts erinnert in einer solchen Einstellung an so etwas Langweiliges wie das reale Leben. Die andere Einstellung, scheinbar das direkte Gegenteil, ist jenes nur einer Filmkamera mögliche Einfangen eines realen Augenblicks, eines unwiederbringlichen Teils eines einzelnen und einzigartigen Lebens. Die eine Einstellung enthält die Anmaßung des Nirgendwo, die andere die des Hier und Jetzt. Beides ist an der Grenze des Aushaltbaren, und in beidem können sich sehr heftig das Erhabene und der Müll des Kinematographen begegnen.
Weil jedes einzelne schon schwer genug ist, hat es sich die Geschichte der Filmkunst so eingerichtet, daß die beiden radikalen Einstellungen jeweils abwechselnd zum Ideal erhoben werden. Nun aber gibt es auch im Kino die Erleuchteten oder die Wahnsinnigen, wie man es nimmt, denen es gegeben ist, nicht nur beide Einstellungen in einem Film unterzubringen, sondern sogar beide Einstellungen in einer Einstellung. Man stelle sich also vor: Eine Einstellung, eine Kamerabewegung, eine Sequenz, eine Szene läuft zugleich auf eine radikale Befreiung der Phantasie, auf den reinen Spiel-Film, und auf die genaueste, zärtlichste, unverschämteste Teilhabe an einem augenblicklichen menschlichen Geschehen hinaus. Auf diese Weise funktioniert ein Film von Jacques Rivette.
Daß so etwas funktionieren kann, hängt von einigen Voraussetzungen ab. Zum Beispiel von einer besonderen Art, mit den Schauspielern umzugehen, davon, einen Plot, einen Dialog eher als Spielmaterial denn als Ziel zu sehen und einen Film zu begreifen eher als Dokument einer Befreiung statt als Erfüllung von narrativen Pflichten. Auch vor dem Rätselhaften darf man sich nicht scheuen. Sehr einfach drückt das Rivette selber aus, wenn er sagt, ein Film sei ein Abenteuer, für die, die ihn machen, und für die, die ihn sehen. Natürlich gehört dazu, daß ein Film in sich seine Dauer bestimmen muß. Und daß man auch nicht so ohne weiteres eine Rezension schreiben kann, die auf so Verläßlichem wie einer Inhaltsangabe, Stilprinzipien, einer Künstlerbiographie vielleicht beruht. Rivette-Filme passieren einem oder einer oder einen oder eine; das ist alles.
Rivettes Filme sind im wesentlichen sehr einfach. Es gibt bestimmte wiederkehrende Kompositionselemente, das Spiel einer Verschwörung etwa, von der man nie genau weiß, wieviel davon sich zwischen den Menschen oder wieviel sich nur in ihren Köpfen abspielt; es gibt die großartigen Übergänge zwischen den Kunstformen; es gibt Fixpunkte wie »Fantômas« und die Serienfilme »Feuillades«, das Werk Balzacs oder die Lähmung und Auflösung als Grunderfahrung des Lebens in den Jahren nach 1968: »Da sind wir nun und warten ab«, hat Rivette zu »Out 1« und zum Zustand seiner Zeit und seiner Helden gesagt. Und die meisten von uns wissen, daß beim Dasein und Abwarten Himmel und Hölle los sein können. Und daß es ein ungemütlicher Zustand ist. Überhaupt, sagt Rivette, gibt es nur zwei Arten von Filmen. »Gemütliche Filme und solche, die es nicht sind.« Seine ungemütlichen Filme aber sind so frei, manchmal komisch und bei alledem auf eine traumhafte Weise einfach, daß sie auch ungeheuren Genuß erlauben. Man muß nur mitmachen, selber phantasieren, furchtlos sein.
»Va Savoir« ist, gemessen am Rivette-Maßstab, ein fast konventioneller Film. Zweieinhalb Stunden Laufzeit, eine Geschichte, oder ein paar davon, mit Anfängen, Mittelteilen und wenn auch losen Enden, mit Partitur-Dialogen und mit einer Handlung, die man nötigenfalls auch nach den Regeln des psychologischen Realismus verstehen kann. Wieder einmal beginnt ein Rivette-Film mit einer der Vor-Künste des Kinos, mit dem Theater. Mit der ersten Einstellung, einer Probe einmal mehr, errichtet Rivette eine Welt aus Sprache, Bewegung und Blau, Weiß und Rot, die sofort beginnt, aus sich selbst zu leben. Und wieder einmal können wir teilnehmen an einem Spiel, an einer Verschwörung.
Eine Schauspielerin, Camille, die sich in ihrem Theater immer wieder verläuft und es als »zu rot« empfindet, die nie ganz ihre Rolle findet, in einem italienischen Stück in Paris, »Come tu mi voi«. Wie du mich willst (so bin ich nie). Sie verläßt die Vorstellung noch vor der Verbeugung, sie kann es ihrem Freund und Regisseur Ugo nicht erklären. Sie ist nach drei Jahren zurückgekehrt nach Paris als eine andere, und das ist die Stadt, in der sie ihren früheren Geliebten, den Philosophieprofessor Pierre wiedertrifft. Ugo unterdessen ist besessen von seinen Recherchen zu einem unveröffentlichten Stück von Goldoni. Dabei trifft Ugo auf Dominique, die Tochter jener Frau, die eine Bibliothek des Gönners von Goldoni geerbt hat. Dominique wiederum hat einen Halbbruder, Arthur, der sich an Pierres neue Lebenspartnerin Sonia heranmacht. Pierre, der seine Arbeit unter das Motto »Heidegger, der Eifersüchtige« gestellt hat, hat selber die Trennung von Camille nie verwunden. Es kommt zu einem komisch-peinlichen Abendessen der beiden Paare und sogar dazu, daß er versucht, Camille einzusperren. Come tu mi voi. Jede Verwandlung, jede Projektion führt nur zu neuen Mißverständnissen.
Wie so oft bei Rivette steigen wir vom Melodram zum Märchen herab, denn nur hier können wir den versprochenen Blick in die Hölle tun. Und umgekehrt werden psychische Zwänge in freies Spiel verwandelt, dessen Regeln dauernd neu erfunden werden. Auf dem Weg von Goldoni zu Heidegger und zurück gibt es immer wieder Umleitungen durchs Wonderland hinter den Spiegeln. Spiegelt das Theater das Leben oder das Leben das Theater? Die Sache ist komplizierter und einfacher. Eine Kamera kann zwischen Spiel und Leben nicht unterscheiden, deswegen muß sie damit beginnen, etwas Drittes (vielleicht das Dasein und Abwarten) zu untersuchen. Die Antwort auf die Frage Kunst oder Leben ist Film. »Man kann träumen!« erklärt Ugo einmal seine besessene Suche. Das ist das Recht, das hier eingefordert wird. Während aus den Rivalinnen Camille und Sonia Komplizinnen werden (da ist die verdoppelte Alice in Rivette-Land wieder geboren), wird das Theater zum Austragungsort eines Duells der Männer, von dem zu Beginn nicht einmal die Waffen bekannt sind.
Nun könnte man noch schwärmen von Rivettes Bildkompositionen, von den Schauspielern, die das Theatralische, das Lebendige und das Filmische beherrschen, von der Balance des Komischen und des Erhabenen, von den hundertundeins Verweisen. Aber nötig ist das eigentlich nicht. Das Kino, sagt Rivette, ist das »Band zwischen etwas Äußerlichem und etwas ganz Verborgenem, das eine unvorhergesehene Geste entschleiert, ohne es zu erklären«. Und für so was braucht das Kino Menschen, die ein bisschen mehr sein wollen als »Zuschauer«.
Georg Seeßlen
Text erschienen in: konkret 07/2002
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