Nachruf auf einen Nachruf
Der Film »Deutschland im Herbst« (1978) erzählte nicht nur viel über das Durcheinander, das damals in linksliberalen Autorenfilmerköpfen herrschte. Er führte auch vor, wer warum in Zukunft seinen Weg machen würde
Es ist nun zwanzig Jahre her: Die Ermordung Schleyers, die Flugzeugentführung und der Einsatz der GSG 9, das ungeklärte Sterben der inhaftierten Mitglieder der RAF, Pogromstimmungen und Paranoia – und doch ist es (noch) nicht Geschichte geworden. Es hat sich nicht abgelagert in den Korallenriffen des kollektiven Bewußtseins. Die Älteren haben sich noch keinen oder zu viele Reime darauf gemacht, was damals geschah, die jüngeren, die in ihrer politischen Biographie nie etwas anderes erlebt haben als Helmut Kohl und den »Geschichtsunterricht« seiner Ära, blicken vor sich selbst zurück – und sehen da nur seltsame Mythen, seltsame Lücken.
Natürlich hilft da auch nur sehr bedingt das nochmalige Betrachten einer mehr oder minder kollektiven Anstrengung des damals noch sich als jung begreifenden »Neuen deutschen Films«, in Bildern auf das Geschehen – das innere wie das äußere – zu reagieren. Aber damals begannen die Bearbeitungen und Verdrehungen, die Karrieren und die Verluste. Wenn es nicht so offensichtlich wäre, müsste es wie ein furchtbarer Mythos erscheinen: Der eine, der sich unversöhnlich und direkt dem Geschehen stellte, ist tot; die anderen, die an diesem Projekt beteiligt waren, haben Karrieren gemacht, die zum Teil unheimlich erscheinen mögen, und dass es so kommen würde, ist an ihren Beiträgen abzulesen.
»Deutschland im Herbst« also. Ein Film, eine Erinnerung, eine Geschichte. Das ganze Projekt ist als Collage angelegt, in der sich der Beitrag der einzelnen Mitarbeiter nicht ausweist. Nur Rainer Werner Fassbinders Beitrag am Beginn – nach der dokumentarischen Eingangssequenz mit dem Brief Schleyers an seinen Sohn – bricht aus dieser (scheinbaren) Kompatibilität aus; es ist ein ganz eigener Film, eine eigene Collage, eigen-sinnig und wider-willig. Fassbinder antwortet auf die Herausforderung mit einem Akt der künstlerischen Selbstentblößung (die indes sehr viel mehr Inszenierung enthält, als man früher meinte): Es ist ein »Fassbinder-Film«, der in der Behandlung seiner Hauptperson Fassbinder jedes Appeasement, jeden Konsens verweigert: Da ist einer, der ist schwul, der säuft, der kokst, der benimmt sich wie ein Kotzbrocken. Er ist in der ganzen Zeit nicht einmal richtig bei sich, faßt keinen »klaren Gedanken« und stellt doch die richtigen Fragen. Das noch am meisten dokumentarische Element seiner Collage ist das Gespräch mit seiner Mutter, das er führt, als wäre er eine Art Kommissar der bereits verlorenen demokratischen Verfassung – und doch endet der Film mit einer beinahe zärtlichen Einstellung auf die Mutter, die von einem autoritären Herrscher träumt, der ein »ganz lieber« ist. Die überaus kunstvolle Verschachtelung des Dokumentarischen und des Inszenierten zeigt den Künstler als einen Menschen in höchster Bedrohung (auch von Paranoia bedroht, wenn er, als er eine Polizeisirene hört, seinen Stoff ins Klo schüttet und einen Mann, den sein Freund mit in die Wohnung bringt, rausschmeißt, ohne Gründe dafür nennen zu können), der dennoch nicht daran denkt, sich durch eine Geste der Unterwerfung, des Sich-nett- und Kompatibel-Machens sein Recht auf Widerstand abkaufen zu lassen.
Alexander Kluge arbeitet in seinem Beitrag mit der entgegengesetzten Methode, einer Distanzierung in Form einer dialektischen Fabel. Er beginnt mit Bildern einer idealen deutschen Landschaft, unterlegt mit der sanften Haydn-Urfassung der Hymne, und schickt Gaby Teichert los, einen Unterstand für den Weltkrieg zu graben, oder sich einfach nur archäologisch zu betätigen. Wie sie durch den deutschen Schlamm stapft, ist sie eine Mischung aus einem trotzigen Kind und einem Weltkriegssoldaten. Während Fassbinder in dunklen Bildern erzählt, in denen allerdings nur scheinbar die Dinge eher zufällig geschehen (in Wahrheit ist der Film ein Beispiel für seine Inszenierungskunst und -methode, die beim Zuschauen eben immer auch eigene Prozesse zulässt), komponiert Kluge die Bilder zu einem visuellen Poem – er gräbt in der Geschichte nach dem Passionsmord.
Die Beziehung zwischen dem Staatsmord und dem Schleyer-Begräbnis (und die Formen der Inszenierungen von Faschismus und »demokratischem« Staat) faszinieren nach wie vor: Wie der Staat an seinen Opfern wächst, wie er sich, ganz bildlich, formiert, durch Nekrophilie vorankommt – das ist auf seine Weise nicht weniger wahrhaftig und widerständig als Fassbinders persönliche Passion. Der serbische Herrscher. Ein Mord des deutschen Geheimdienstes in Marseille. Kluge erinnert an den Staat als Täter in einem Moment, in dem er sich als Opfer inszeniert. Es ist gespenstisch, wie das einen Schub der Medialisierung auslöst in einer Öffentlichkeit, deren Faszination sich Kluge, Schlöndorff usw. gar nicht erwehren können, während Fassbinder sich drastisch verweigert. Die Übertragung des Schleyer-Hochamtes, die trauerflorgeschmückten Mercedes-Flaggen, das ist wie der neue, negative Reichsparteitag dieses Staates, im nachhinein seine eigentliche Inauguration: Trauerfeiern, die schon die »Menschenwürde des Terroristen«, als besonderes humanistisches Angebot in den Versöhnungsmythos einbauen wollen wie in Scheels Ansprache (wir sehen anderes in den Gesichtern der Politiker und Wirtschaftslenker).
Und doch steckt in dieser ironischen Distanzierung auch schon ein Stück Akzeptanz. Auf Fassbinders Verweigerung folgt die Illusion einer analytischen Zeugenschaft. Leider bereitet sie den Boden für das, was dann kommt. Spielszene: Eine Frau wird nachts niedergeschlagen; Wolf Biermann singt »Was wird aus unseren Träumen«; die verschmutzte, geschlagene Frau wird in einem Hochhaus von einer anderen getröstet, ihre Wunden werden versorgt. Die Frau bereitet Tee, und man sieht ein Poster von Fred Astaire und Ginger Rogers. Schnitt auf das Gefängnis: Helmut Griem als »Reporter« besucht Horst Mahler, nun wird die helfende Frau vorgestellt (sie arbeite, heißt es, in einer politischen Gruppe, »privat gehört sie einem bedeutenden Fernsehredakteur«, und sie habe bereits sieben Veröffentlichungen Mahlers gelesen), der eine erste Selbstkritik der Bewegung formuliert. Hier ist die Ironie bereits in etwas umgekippt, was man damals »Affirmation« nannte. Die Montage ist ausschließlich rhetorisch, die Einstellung fetischistisch (sie glaubt an nichts anderes als an sich selbst).
Nun also erklärt Mahler das Scheitern der linken Bewegung. Er schafft, scheint’s, nur zu schnell den nächsten Mythos in seiner Inszenierung (kein Versprecher, kein Suchen nach Worten, die große Rede vor Gericht, schon lange fertig in der Aktentasche). Hier hat der Film keine Brechung mehr, hier ist der Abschied, in der Inszenierung Mahlers aus leichter Untersicht, schon programmiert. This Way Out. Man distanziert sich zugleich vom Revolutionär (der, so erfahren wir, es mit der Moral übertreibe) und muß sich deshalb mit Strauß und Konsorten noch nicht gemein machen (der in Chile gerade wieder erklärt, dass der Kapitalismus, wenn es notwendig ist, zum Faschismus werden muss). Diese intime Szene, die, ganz anders als Fassbinders Passagen, das Inszenierte und das Dokumentarische nicht gegeneinander setzt, sondern in einem Mythos aufheben zu wollen scheint (so, als wäre Mahler Schauspieler und Mensch in vollkommener Gleichung), ist auch ästhetisch ein Bruch mit dem »Revolutionären«. Rette wer kann (das Leben). Nicht nur Mahlers Aussagen, sondern die gesamte Inszenierung seines Auftritts ist ein Entrebillet in die spätere Konsenskultur. Es ist alles bereits rationalisiert, vor allem ist die in Frage gestellte Person völlig intakt und unfragmentiert, was die Inszenierung des fiktiven Fernsehinterviews zum genauen Gegenteil einer Reflexion werden lässt. Der Interviewte scheint in der Interviewsituation völlig autark zu sein, das Medium weigert sich, sich selbst in Frage zu stellen. Da ist jemand am Werk, der in diesem Medium Karriere machen wird. (Kluge? Bernd Sinkel? Alf Brustellin?)
Die nächste Episode, von Katja Rupé und Hans-Peter Closs ein wenig nach Art eines Visconti für Arme inszeniert: Ein Flüchtling nach einem Autounfall, der Wasser (keinen Schnaps) haben will. Terroristen trinken keinen Schnaps. Aber dann ist das ganze mehr ein »Tatort«-Krimi, der sympathische Täter auf der Flucht (furchtbar peinlich der Musikeinsatz, die verzögerten Blicke, die Detailaufnahmen: Zeitung mit Fahndungsfotos). Blick des »Terroristen« über Fernsehmonitor und hochmoderne Aufnahmeanlage zu Frau in eben solcher Küche, der existentielle Tat-Mann und die Besitzbürgerfrau (die, wie wir ja wissen, »privat« einem Fernsehredakteur gehört); Monitor zeigt Afrika, Mogadischu; Musik setzt ein: Schlagzeug, Blick zurück (nun mit Saxophon: Einsamkeit), der Mann verdeckt / Nahaufnahme: Zeitung mit Fahndungsfotos (»Süddeutsche«). Frau nimmt Obstschale, nachdem sie Wasserglas (»Das wird Ihnen gut tun«) von Zeitung genommen hat; Nahaufnahme, was denn sonst!, von Fahndungsfotos, Nahaufnahme: Obstschale – mit Messer darin. Wer so inszeniert, ist offensichtlich doof.
Diese Rhetorik der Überdeutlichkeit – jetzt fällt, natürlich, auch noch der hässliche Schmuckdolch aus der Obstschale auf den Boden, Nahaufnahme, wir machen es nicht anders, blutverschmiertes Taschentuch, aber rasch, schon wieder Dolch (und hässlicher Teppichboden): Mann nimmt Dolch, immer noch Nahaufnahme, auf, kleine Genre-Zitate, haha, kreischender Frauenmund, Thriller, netwahr, Kreischsound, Auflösung: »Sie waren in Spanien, nicht wahr.« So hässliche Dolche in Obstschalen kriegt man nur dort unten, Licht übrigens kommt auch nur von unten auf die Gesichter. »Bitte, wischen Sie sich das Blut ab«, sagt die Frau, schickt ihn ins Bad, und die Kamera, Brennweitenveränderung und Schwenk zugleich – mein Gott, ist das übel! -, zeigt Katze auf dem Klavier; Frau zieht sich Mantel an, wir haben es: Das kann nur Satire sein. Blick auf Fernsehapparat, schon wieder nah: Es brennt! Grübelfrau setzt sich ans Instrument, Mann kommt herein, grinst jetzt, Herr der Lage oder was – all das spricht von der verzweifelten Hoffnung, einerseits sich eine »Sprache« des Films gefügig zu machen und andrerseits schon vom Eifer dazuzugehören: Schuß/Gegenschuß/Schnittfehler, schreit der Student in uns, aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, noch ein seltsamer Schnitt, Helmut Griem ist jetzt wieder Regisseur: »Ton ab. Wolf Biermann. Mädchen in Stuttgart.« Jetzt kommt ein Alltime-Favorite des schlechten Geschmacks! Kamera im Bild, dann Kamerafahrt selber: Biermann: »Ich traf ein Mädchen, und das tat weh.« Und ach! das gläubige Mädchengesicht dazu. Und wie Mahler hat er die Formel parat: »Ich glaube«, niemand kann so »ich« sagen wie Biermann, »sie haben sich selbst und sie wurden so weit gebracht.« So wie Mahler einen Mythos des verfehlten Revolutionärs als übertriebenen Moralisten produziert, so produziert, um vieles schlimmer, Biermann nun einen Mythos des verlorenen heiligen und sündigen »Mädchens«.
Was in Fassbinders Beitrag verweigert wurde, ist hier schon wie auf einem Tablett präsentiert und in einer Ästhetik, die geradezu furchterregend Ufa-Rhetorik, Hollywood-Routine und Fernseh-Evidenz verbindet. Hat damals wirklich niemand darüber gelacht, wie Biermann sich allertreuesten Dackelblicks in eine Kamera hinein inszenierte, die so tat, als habe es nie einen Clair, einen Eisenstein, einen Fuller, einen Godard, als habe es überhaupt nie etwas anderes gegeben als Veit Harlan?
Noch furchtbarer wird diese Inszenierung durch die Behauptung, sie reflektiere bereits ihre Mittel. Die politische Gruppe der »Franziska Busch«, heißt es weiter, stellt einen Film her, »der in seiner Form an die politischen Filme der zwanziger Jahre erinnern soll«. Erstens: Warum denn das? Zweitens: Die Bilder behaupten eher das Gegenteil: Jemand versucht, etwas herzustellen, was möglicherweise mit einem Pepsi-Cola-Clip zu tun hat, aber nicht mit dem Gewissen der Filmgeschichte. (Film im Film: Man sieht, wie eine rote Fahne verbrennt im Sog einer Windmaschine – Klaviermusik, Schwenk auf die Kamera, Überblendung zu »echtem« Revolutionsfilm.) Das tut weh, um Biermann aufzugreifen, und dann das Spiel mit den Motiven und immer die Filmrollen im Hintergrund: Wirklichkeit zu suchen, hat gar keinen Sinn. Wir haben einen Blick in die Zukunft der deutschen Audiovision geworfen.
Franziska Busch, heißt es nun, hat eigene Filmpläne, doch sie konnte weder ihren Freund, den Fernsehredakteur, noch ihre politische Gruppe von ihnen überzeugen. Schubert und Waldwinter – wir sind bei Edgar Reitz, plötzlich werden wir daran erinnert, daß es in allem Schrecken auch schöne Bilder gibt. Wir sind wieder in einem Moment des Filmemachens, Vadim Glowna reicht ein schneebedecktes Bäumchen in einen Wagen; ein Grenzer beugt sich ins Auto: »Sie, des war dene unangenehm, daß die den Schleyer gfunde habe.« Und dann sagt er: »Uff’d Mädle gebbe mer bsonnders acht«, als eine Frau vorfährt.
Wir kehren zurück zum Staatsakt, zu Begräbnis und Selbstfeier, gar in die Fabrikhallen, in denen vor allem »Gastarbeiter« beschäftigt sind. Wir sehen in verständnislose Gesichter. Doch für viele deutsche Menschen werden so Staat und Wirtschaft erst wirklich verständlich, jener wird aus dem Terrorismus geboren, seine Repression tritt an die Stelle des fehlenden Gesellschaftsvertrages. Rainer Werner Fassbinder hatte in seiner nächsten Umgebung, bei der Mutter wie beim Geliebten, nichts anderes erfahren als den Impuls, die »Terroristen« zu töten: mehr oder weniger öffentlich, mehr oder weniger exemplarisch.
Die Aufnahmen von den Beerdigungen der Terroristen sind dann wieder gespenstisch genug, um real zu sein. Eine Frau mit ihrem Kind, kleine Tochter mit langem, sehr langem Rock, hippiemäßig gekleidet, versucht per Anhalter von dem Ort wegzukommen, an dem Trauer, absurder Ordnungswille der Obrigkeit und letzter Trotz zusammenkamen, und der Text des Anfangs ist noch einmal da, ohne Quellenangabe diesmal, und noch deplazierter als zu Beginn, als er einer Frau am Ende des faschistischen Krieges zugeschrieben war: »An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat, sie soll nur aufhören.« Und Joan Baez singt dazu.
Dieses mythische Schlussbild nimmt in der Tat die Entwicklung des nächsten Jahrzehntes vorweg. Ein Erlösungsbild, das uns von der Widersprüchlichkeit der Gewalttätigkeit, der Unabgeschlossenheit der Ereignisse ablenkt – eine Denunziation im übrigen auch noch des Dargestellten durch Darstellung und Montage. Aber jetzt, freilich, ist gut reden. Jetzt, wo man es besser wüsste.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Konkret 09/1997
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