David Lynch zeigte in seiner Kunst und in seinen Filmen die Innenseite des amerikanischen Traums von Erfolg, Sex, Familie und Fassade. Ein Nachruf auf diesen durch und durch außergewöhnlichen Menschen

Die Kunst und das Kino haben einen Großen verloren. David Lynch war ein durch und durch außergewöhnlicher Mensch mit einem außergewöhnlichen Werk. Einer der raren und daher umso wichtigeren Leute, die eine Verbindung von Avantgarde und Pop herzustellen vermochten.

Statt sich auf eine Interpretation seiner Arbeiten einzulassen, verwies Lynch selbst gern auf den Surrealismus. Das heißt unter anderem, dass es um Bilder und Bewegungen geht, die sich in einer Sphäre unterhalb des Bewusstseins, oder auch jenseits der Codes und der Gewohnheiten bewegen. David Lynch schaut die Dinge und die Menschen, gewöhnliche ebenso wie leicht verschrobene, so lange an, bis sie ihr geheimes Innenleben offenbaren, bis sie auf eine poetische aber eben auch durchaus analytische Weise verrückt werden, bis sich soziale Rollen als schamanische Masken zu erkennen geben.

Die Wirklichkeit verschwindet nicht, sie wird über-deutlich. Blue Velvet oder Twin Peaks sind wilde Bilderträume, voller Gewalt, Sexualität und Metaphysik, aber zugleich sind sie auch überaus präzise Darstellungen US-amerikanischen Kleinstadtlebens. Mullholland Drive und Inland Empire sind endlos geflochtene Bänder über den Zusammenhang von Lebenswirklichkeit und künstlerischem Rollenspiel, aber zugleich geben sie auch einen Einblick ins innere Funktionieren einer Traumfabrik. Zunächst scheinen alle Protagonisten bei David Lynch verschiedene Stadien von Psychose zu durchleben, aber je näher wir ihnen kommen, desto größer wird der Zweifel: Was, wenn nicht sie, sondern die Welt verrückt wäre?

Er lacht, wo es anderen graut und

schüttelt sich vor Grauen, wo andere lachen

Bei David Lynch wird einem klar: Alles kann Kunst werden, alles kann zum Kunst-Raum werden. Auch eine Streichholzschachtel. Wie bei Franz Kafka – seelenverwandt, wie man so sagt – müsste man sich auch bei David Lynch einen Künstler vorstellen, der lacht, wo sich andere vor Grauen schütteln, vielleicht auch, weil er sich vor Grauen schüttelt, wo andere lachen. Eine seiner raren „methodischen“ Aussagen drückt es wohl am besten aus: „Filme müssen unter die Oberfläche schauen, sonst machen sie keinen Spaß“.

So offenbart sich, was auf der Oberfläche als Kitsch, als Trivialität, als Kindliches (seine stete Reminiszenz an Märchen und Kinderspiel), Konvention angesehen wird, als nur scheinbar gebändigte Revolte. Hinter seinem Humor steckt ein ursprünglicher Zorn, den der Künstler und der Mensch David Lynch auf ganz unterschiedliche Weise zu beherrschen scheinen. Alle seine Kunst behandelt einen Aufruhr, die Explosion der Verzweiflung, während der Mensch David Lynch in der transzendentalen Meditation Versöhnung und Balance suchte und zumindest bis zu einem gewissen Grad wohl auch fand. Einer von Lynchs Comic-Strips (ja, auch dieses Medium hat er benutzt) zeigt „den zornigsten Hund der Welt“. Angebunden, aber niemals unterworfen.

Es ist unglaublich schwierig, Surrealismus in den Film zu bringen, denn die arbeitsteilige und industrielle Produktion von Filmen bedeutet ständige Rationalisierung und Konventionalisierung. Dazu gehört nicht nur Mut und eine Portion Unverfrorenheit im Umgang mit der finanziellen und betrieblichen Seite des Metiers, ein Quantum Glück gehört auch dazu. Das Karriere-Glück des David Lynch bestand wohl darin, dass seine Arbeiten in bestimmten Pop-Szenen zum Kult wurden. Sein erster großer Film, Eraserhead wurde in all seiner poetischen Grausamkeit zu einem Klassiker des Mitternachtskinos, in Blue Velvet und Wild at Heart konnten sich viele junge Menschen zwischen Anpassung, Entfremdung und Widerstand wiedererkennen, und die Serie Twin Peaks veränderte das serielle Erzählen so drastisch, dass man die Geschichte der TV-Serie in eine Zeit vor und eine nach Twin Peaks einteilen kann.

Und Twin Peaks war, wie wohl alle Filme mit Kyle McLachlan, auch am nächsten an einer magischen Autobiographie. Wie der Künstler David Lynch taucht der Agent Dale Cooper immer tiefer in die Innenseite des American Dream von Erfolg, Sex, Familie und Fassade. Was ist schrecklicher, dass im Kern dieses Traums Inzest und Mord stecken oder dass der Schrecken mit der Aufklärung des Verbrechens noch lange nicht vorbei ist? Mit Twin Peaks schuf David Lynch eine neue Form der Erzählung, aber bevor sie selber wieder zur Konvention werden konnte, zerstörte er sie gleich zweimal, nämlich einmal durch ein Ende der Serie, das jeder gewohnten Dramaturgie Hohn spricht, und durch einen nachgeschobenen Kino-Film, der wie ein Zerrspiegel der Serie letztlich alles wieder in Frage stellt.

Spiegeleffekte gehören zu den zentralen Elementen im Lynch-Kosmos, und Wild at Heart ist wohl die heftigste dieser Mischungen aus Gewalt, Schönheit und amerikanischer Mythologie von Elvis Presley über Marlon Brando bis The Wizard of Oz. Alle diese Reisen mit der Liebe und dem Tod führen bei Lynch statt zum Happy End zur Auflösung der persönlichen Identität. Seine letzten Filme von Lost Highway bis zu Inland Empire sehen von außen aus wie Studien psychotischer Schübe, von innen dagegen reflektieren sie einen radikalen Zweifel am Konzept der autonomen Person. Menschen sind nichts anderes als Projektionen, sie werden konstruiert. Die Kunst der Dekonstruktion ist bei David Lynch aber niemals zynisch. Immer leidet man als Zuschauer mit diesen Menschen, die sich bei den Reisen ins Innere ihrer Personen und ihrer Gesellschaft zugleich finden und verlieren. Der Blick von David Lynch auf den Menschen ist unerbittlich aber auch von einer großen Zärtlichkeit.

Wer es in den „typischen“ Lynch-Filmen nicht gleich sieht, muss sich die scheinbar konventionelleren ansehen, die er über Außenseiter und Ausgestoßene gedreht hat, The Elefant Man und The Straight Story, die Geschichte eines alten Mannes, der auf einem umgebauten Rasenmäher durch Amerika fährt, um seinen todkranken Bruder zu besuchen. Beide, den tragischen „Freak“ und den eigensinnigen alten Reisenden hat es wirklich gegeben; Surrealismus ist kein Absehen von der Wirklichkeit, sondern ein anderes Hinsehen.

Übrigens war David Lynch selbst ein lebendes Kunstwerk. Die Porträts, die es von ihm gibt, erscheinen wie Skulpturen, als wäre dieses Gesicht dazu da, auf das Licht zu reagieren, und seine Performance in eigenen oder den Filmen anderer sind Miniaturen über eine Existenz, die nur teilweise von dieser Welt ist. Sein letzter Auftritt, in Steven Spielbergs wundervollem Film The Fabelmans, ist die Erfüllung eines surrealistischen Traums: Sich selber in etwas ganz anderem zu sehen. David Lynch in der Rolle von John Ford, dem größten Mythopoeten des amerikanischen Kinos. Ford und Lynch sind da wirklich überblendet in der Erklärung des Horizonts für das Filmbild: Der Horizont in der Mitte? Langweilig. Der Horizont verschoben? Interesting. Mehr muss der junge Fabelman/Spielberg über das Filmemachen eigentlich gar nicht mehr wissen. Film/Kunst heißt: den Horizont verschieben.

Vielleicht ist das der Himmel der audiovisuellen Kunst. Der Raum, in dem sich John Ford und David Lynch begegnen und merken, dass sie eigentlich eines sind, zwei Seiten derselben Sache. Der Verwandlung der Welt in Kunst.

 

Georg Seeßlen

der Freitag | 17.01.25

 

Bild ganz oben:

David Lynch at the 2017 Cannes Film Festival

Date: 27 June 2017 | Own work | Author: Georges Biard

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Attribution: Georges Biard