Es war alles gegeben: Die Möglichkeit, Western zu drehen, ein gewisser Bedarf, eine weltweite Erwartung und ein Präsident, der den Hut trug, aufs Pferd kletterte, mit dem Colt hantierte und sogar ein wenig o-beinig ging. Dennoch wurden während der Reagan-Ära so gut wie keine Western mehr gedreht. Nimmt der Tod des Nationalepos das Sterben der Nation vorweg?
Man hat Ronald Reagan als den ersten potemkinschen Präsidenten der Vereinigten Staaten bezeichnet. Das ist nur die halbe Wahrheit und deshalb zu mehr als der Hälfte gelogen. Dieser Präsident und seine Administration begleiteten die Verwandlung der Einwohner von God’s own country in eine potemkinsche Gesellschaft. Der ganze Elan dieser sechzehn Jahre war auf die Errichtung von Fassaden konzentriert, die in den Main Streets aufeinander zeigten, nicht ohne einander zu bedrohen. Die Postkutschen waren längst motorisiert, wie die der Familie Schwab in Robert Altmans »O.C. & Stiggs«, und die Gunslinger waren Jahrmarktsattraktionen geworden: »Futureworld«, Gespenster einer Mythologie, die allein mit Fassaden nicht mehr darzustellen ist. Das immerwährende Rodeo, mit Filmen, Comics, Literatur, TV, Malerei und popular history Teil des umfassenden Systems von western art, ist längst kein Bild mehr der verpflichtenden Geschichte, des Mythos, sondern die perfekte Verbindung von Gewinnen um jeden Preis und der Potemkin-Version von Geschichte. Noch kurz vor dem Anbruch der Reagan-Ära nahm der Film Abschied vom Rodeo und seinen Helden. Für die »Junior Bonners« und elektrischen Reiter gab es da nichts mehr zu tun.
Daß es (so gut wie) keine Western in der Reagan-Ära gab, beschreibt einigermaßen genau die Beziehung zwischen Politik und populärer Kunst. Sie ist, das macht ihre sonderbare Autonomie, soll ich sagen: ihre Würde?, aus, kein wirklich propagandistisches Instrument. Sie ist vielmehr auf eine ganz un-moralische Art ehrlich, ja vielleicht ist sie nicht nur unser Trost, sondern auch schon unser Gewissen. Die Reaganisten hätten ja nun die Wiederbelebung des Western forcieren können; Reagan selbst, der ja ein paar B-Western bestritten hat und sich ohne weiteres als Western-Star in der Gleichung von Western-Star = Patriot (entweder höchstdekorierter Soldat wie Audie Murphy oder Heimatfronttragiker wie John Wayne) noch einmal glaubwürdiger hätte machen können, ging während seiner Amtszeit gezielt, aber vorsichtig mit Western-Symbolen um. Er trug den Hut, er kletterte aufs Pferd, er hantierte mit dem Colt. Und ging er nicht ein wenig o-beinig?
Aber er ging jeder gezielten Konfrontation mit den Western-Mythen aus dem Weg, und seine Gesellschaft tat es ihm gleich. Ein Film wie Michael Ciminos „Heaven’s Gate“, der vielleicht gerade noch ein Western war, mehr noch aber ein neues „Vom Winde verweht“, mußte Empörung hervorrufen, Ablehnung jedenfalls, und die Verbreitung dieser Ablehnung war das erste Anzeichen der neuen Konsolidierung der potemkinschen Gesellschaft.
Nun ist es ja wohl nicht so, daß etwa die Reagan-Administration die Produktion von Western zu verhindern gewußt hätte (möglicherweise, weil man gerade in diesen Spiegel nicht sehen wollte), und wenn auch der militärisch-wirtschaftliche Komplex andere Genres bevorzugte, so hätte man sich doch einer bescheidenen Western-Produktion nicht widersetzt (auch wenn ein gerader Weg von der Winchester zur Pershing nicht zu sehen war). Die Berührungsangst der amerikanischen populären Kultur gegenüber dem Western muß eine reichlich komplizierte, um nicht zu sagen neurotische Struktur aufweisen. Denn zumindest in der zweiten Hälfte der Reagan-Ära war von kaum etwas so viel die Rede wie von einer Western-Renaissance; eine unterschwellige Sehnsucht nach dem Western schien weit über die Zirkel mythensüchtiger Cineasten hinauszugreifen. Und merkwürdigerweise gehören drei von den wenigen Western, die in dieser Zeit gedreht wurden, »Pale Rider«, »Silverado« und »Young Guns« zu den kassenträchtigsten aller Zeiten (was, zugegebenermaßen, bei der veränderten ökonomischen Struktur der amerikanischen Filmindustrie nur einen beschränkten Aussagewert besitzt).
Es war also alles gegeben: die Möglichkeit, Western zu drehen, ein gewisser Bedarf, eine weltweite Erwartung und nicht zuletzt alte und neue Talente, die sich gerne am ureigensten amerikanischen Genre versucht hätten. Aber kaum ein Western kam zustande, einige gingen so unglaublich daneben wie William A. Frakers Pseudo-Version von »The Lone Ranger«, und was einigermaßen ankam, war mehr als ein Western, ein Gespensterwestern wie »Pale Rider«, ein Fantasy-Western wie »Silverado«, ein Brat Pack-Western wie »Young Guns«, Trash-Western wie Paul Bartels »Lust in the Dust« usw.
Bevor wir den staubigen, verbitterten und arbeitslosen Filmcowboy in den Zeugenstand rufen, um gegen die Kultur der Reagan-Ära auszusagen, muß noch eine Satteltasche voller Erklärungen zum Tod des Western ausgeleert werden. Vielleicht lassen sie sich ja zu so etwas wie einer Theorie zusammenstellen, während die Coyoten heulen (oder sind es doch Indianer?).
In jedem Genre gibt es einen Zeitpunkt, wo es scheint, als sei alles gesagt, als gäbe es keine Geschichten mehr zu erzählen. Dann verströmt es sich, läuft aus in immer unbedeutenderen Filmen, im Parodistischen und Manieristischen. Und plötzlich ist es wieder da, hat wieder etwas zu sagen, hat eine neue Art zu erzählen gefunden. Der Western hat sich an den Zyklus von Latenzphasen und manifester Hochproduktion nie so recht halten wollen: Er hat größere Flexibilität als andere Genres bewiesen, überwand seine Krisen viel seltener durch (zeitweiliges) Verschwinden als durch gelegentlich radikale Veränderungen. Seine Stärke scheint darin gelegen zu haben, daß er dreierlei zugleich sein konnte: amerikanisches Nationalepos, universales Männermärchen und Medium politischer und kultureller Kommentierung (es gibt keinen Aspekt der amerikanischen Geschichte seit dem ersten Weltkrieg, der nicht in der einen oder anderen Form in Western diskutiert und kommentiert wurde).
So hat sich auch das Ende des Western nicht analog dem anderer Genres abgespielt. Er verschwand nicht einfach am Horizont wie der Piratenfilm, der Western ist ein Genre, das sich vielmehr gleichsam selbst in die Luft gesprengt hat: ein gewaltiger Selbstmord in Filmen, in denen es nur Verzweiflung, Blut, Dreck und Tod zu geben schien.
Nehmen wir den Gedanken, der Western sei das amerikanische Nationalepos sozusagen in progressiver Form (das Nationalepos als work in progress), für den Augenblick ernst, so ist die Vorstellung recht eigentlich erschütternd, daß eben dieses Nationalepos sich gewissermaßen selbst liquidiert. Doch für eine Gesellschaft, in der eine exorbitante Modernisierung durchgeführt wird, in der es, wie bei jeder Modernisierung, einige Gewinner und viele Verlierer gibt, und zwar unter dem Deckmantel des Konservativismus, unter der Rhetorik der Bewahrung und Wiedergewinnung alter Werte, scheint es nur folgerichtig, daß sich die nationale Rhetorik von ihrer »Seele« trennt.
Überdies sind ja die Helden des Western nicht nur die Verlierer des »echten« Westerns, jene, die errichtet haben, wovon andere profitierten, sondern es sind auch die Verlierer der Reaganomics. Der Reaganismus müßte zwar jene defekten rebel heroes en masse produzieren, die der Western feiert, aber er hat zugleich eine moralische Inversion bewirkt: An die Idol-Stelle des kranken Guten im Western ist das gesunde Böse eines J. R. Ewing getreten. Erst unter Reagan hat sich das closing of the frontier wirklich vollzogen. Amerika ist eine Stadt geworden, und das Land dazwischen hat sich in Disneyland einerseits, Müllplätze der Natur und Geschichte andrerseits verwandelt.
Die Umgestaltung der reaganistischen Gesellschaft macht also einige Grundkonflikte des Western obsolet, so etwa den Konflikt zwischen Stadt und Land. Im Western ist die Stadt, zunächst schon ganz produktionstechnisch bedingt, potemkinsch. Sie besteht nur aus Fassaden, weshalb wir bis in die vierziger Jahre hinein von ihr nur die Eingänge auf der Mainstreet sehen. Erst als die Kamera beweglicher und der Western erwachsener wird, müssen hinter den Fassaden wirklich Häuser sein, die wir umkreisen können, denn die Stadt ist ja ein einziger Hinterhalt. Der Westerner ist ein Mann des Landes: er ist immer Abkömmling von Bauern, Viehzüchtern, Landproletariern und den dazugehörigen Patriarchen. Die Westerngesellschaft wächst, zivilisationsgeschichtlich gesehen, aus einer Hirtengesellschaft, in der von Anbeginn das Archaische einer Hirtengesellschaft mit den Zivilisierungs- und Legalisierungstendenzen einer kapitalistischen Gesellschaft unverbunden nebeneinander stehen. Zwei im Grunde widersprüchliche Traditionen bilden das Genre: die archaisch-patriarchalen Mythen der Hirtengesellschaft: Blutrache, ritualisierter Ehrenkodex, Rafaelisierung der Frau, die Beseelung von Tier und Waffe, Feindschaft gegenüber den Fremden und Neuankömmlingen, Mißtrauen gegenüber anderer als der selbstgeschaffenen Autorität, Naturnähe und die zivilisatorische Kraft kapitalistischer Gründungsmythen: Aufbau von Gesetz und Ordnung, Errichtung neuer Infrastrukturen: Postkutschenlinien, Telegrafenleitungen, Eisenbahnverbindungen, Legalisierung von Besitzverhältnissen, Ausgleich zwischen altem Landbesitz und neuem Stadtbürgertum, Vernichtung oder Entwaffnung der in dieser Situation entstehenden Sozialbanditen, Sicherung des Geld- und Warenverkehrs.
Die Kraft der amerikanischen populären Kultur und in gewisser Weise wohl die der ganzen westlichen Welt besteht nun in der Kunst, diese beiden so widersprüchlichen Tendenzen in einer eigenen Mythopoetik zu verbinden. Die kulturelle Existenz der Nation hängt vom Gelingen der mythischen Aufhebung dieses Widerspruchs ab, die stets aufs neue geleistet werden muß, die Ironie, Tragik, Sarkasmus oder reaktionäre Ideologie produzieren kann. Entscheidend ist nicht so sehr wie, sondern vor allem, daß die Verbindung funktioniert.
Sie kann nur funktionieren, weil der Western im Kern zwei Fluchtpunkte hat: das nostalgische Zurück und das utopische Hinaus. Das bedeutet nichts anderes, als daß es eine Identität des Alten und des Neuen gibt. Nur weil er zugleich der Mann der Vergangenheit und der Mann der Zukunft ist, kann der Westerner zum Kulminationspunkt eines Nationalepos als work in progress werden. Er ist der Held einer Gesellschaft, die gleichsam permanent im Umbau begriffen ist, bei der sich dabei Verlust und Gewinn in etwa die Waage halten. Wie jedes Nationalepos setzt ja auch der Western dem ein Denkmal, was durch die Schaffung der Nation verloren wurde, und dadurch, daß es nie zuende geschrieben schien, war das Genre offen für die Entdeckung immer neuer Verluste. Es entdeckte den Verlust der Freiheit, der Natur, die moralische Schuld des Genozids an den Ureinwohnern des Kontinents, am Ende gar den Verlust der Würde.
So könnte man also vermuten, daß in der Flexibilität des Nationalepos als work in progress der eigene Tod bereits eingebaut gewesen sei, und in der Tat reicht ja auch die Formulierung des Zweifels, das Scheitern der Verbindung beider Traditionen, weit in die Geschichte des Genres zurück. Das Nationalepos schützt sich gegen diese innere Destruktion durch seine Produktionsweise. Die ökonomische und semiotische Gesundheit des Western war nie an seinen herausragenden Beispielen, sondern immer vor allem an der Anzahl der produzierten Werke abzulesen. Das bedeutet nicht nur, daß für einen Film, der seine Helden an den Grundwidersprüchen des Genres scheitern ließ, ein Dutzend entstand, in denen die western world noch ganz und gar in Ordnung war, sondern auch, daß das work in progress genügend Experimentiermasse hatte, um stets die Anpassung an den Geist der Zeit zu gewährleisten.
Bereits in der Dämmerung der »Modernisierung«, die in den USA das Gesicht der Reagan-Ära erhalten sollte, änderte sich diese Produktionsweise aus ökonomischen, kulturellen und ästhetischen Gründen. Was zunächst starb, war nicht der große Western, der im Gegenteil in der Form des »Spätwestern« eine zumindest ästhetische Blüte erlebte (da große Western schon immer eher der Erforschung als der Bestätigung des Nationalepos dienten), sondern die Massenproduktion. Unter anderem war dafür die Explosion der Kosten der Filmproduktion Hollywoods verantwortlich. Nach und nach wurde es unmöglich, billige Western herzustellen. Jeder einzelne Western mußte sein Publikum erreichen, und um dies zu gewährleisten, mußte der einzelne Western notgedrungen zum Verräter werden, die anderen Filme des Genres nicht mehr als Verbindung, eben als Teil des gemeinsamen Nationalepos, sondern als Konkurrenten sehen, die es zu dementieren galt. So wurden die Western immer blutiger, trauriger, komischer, manierierter, grotesker, wahrhaftiger und wahnsinniger. Das Nationalepos wurde seelisch krank.
Unterstützt wurde diese Entwicklung noch dadurch, daß die Massenproduktion nun in einem anderen Land stattfand, in Italien. Die Italowestern waren, seit sie es aus einer Melange von Karl May-Filmen und eher blutigen Emilio Salgari-Phantasien zu einer neuen Ästhetik der Gewalt gebracht hatten, einer systematischen Dementierung des Nationalepos verwandt. Neben vielem anderen gehörte es zum Vergnügen an diesen Filmen, daß in ihnen die Nation Amerika, wenn überhaupt? nur als blutige Farce vorkam. Der Italowestern war so etwas wie die erste Rache Europas an der Amerikanisierung der Welt, die dafür »gewählte« Form war die Trennung der Western-Zeichen von der nationalen Mythologie. Western funktionierten nun im Niemandsland viel besser als in einer historischen Topographie (und wenn der Italowestern schon historisch wurde, an einer mythischen Grenze zwischen den USA und Lateinamerika, dann sympathisierte er mit so ziemlich allem, was gegen die Nation Amerika sprach).
Aber der Western existiert ja nicht allein in Form von Filmen. Konnte die Western-Mythologie in jenen siebziger Jahren nicht auf die Massenproduktion in anderen Medien zurückgreifen? Dazu hätte sich zunächst der TV-Western angeboten. Serien wie »The Rifleman«, »Bonanza« oder »Gunsmoke« hätten doch eben jenes Experimentierfeld bieten können, das der Film verloren hatte. Aber der TV-Western war selber einem Degenerationsprozeß unterworfen, der paradoxerweise in genau die entgegengesetzte Richtung wies wie der Westernfilm. Wurde dieser immer gewalttätiger, grausamer, verzweifelter, so entwickelte sich die TV-Westernserie immer mehr in Richtung auf Zivilisation, Geschwätzigkeit, Kinderfreundlichkeit. Der Filmwestern schickte seine zu Outlaws gewordenen Hirten brüllend in den Tod, der TV-Western dagegen ließ seine frühkapitalistischen Helden um die Tatsache herumschwätzen, daß ihr Westen durch den Druck allfälliger Konformität sterbenslangweilig geworden war. So ereilte den TV-Western das, wovor sich der Filmwestern durch einen stilvollen Selbstmord entzog, der schleichende Tod. Gemessen am bescheidenen Erfolg waren Westernserien überdies zu teuer geworden, und mit »Bonanza« starb am Ende der siebziger Jahre die letzte Western-Serie.
Das war nun nicht das Ende jeder TV-Western. Einige Miniserien wurden produziert, die man in der einen oder anderen Art aufzuheizen versuchte, so gab es Western mit kriminalistischen Untertönen, komische Western, Western um Helden, die sich vor allem als Schürzenjäger betätigten, historische Western usw. Sieht man sie genauer an, so ist ihnen eine merkwürdig mutlose Bewegung um die Grundkonflikte des Genres herum gemeinsam. Ihre Helden gehen eben jenen Konflikten aus dem Weg, um die es im Nationalepos eigentlich geht.
Massenproduktion zeichnete einst auch die Western-Comics aus, deren Entwicklung eng mit dem Western-Film zusammenhängt. Von der Krise des Genres wurden auch sie nicht verschont, obwohl sich ihre Ökonomie nicht so schlagartig veränderte wie die von Film und TV. In der Mitte der siebziger Jahre machte einer nach dem anderen der traditionellen Western-Helden Platz für eine Reihe neuer Western-Helden, die sich durch übernatürliche Kräfte oder durch eine reichlich bizarre Psyche auszeichneten: Marvel schickte einen Ghost Rider ins Rennen, während man sich bei den Konkurrenten DC-Comics »Jonah Hex« ausdachte, jenen Western-Helden, von dem in jeder Nummer gefragt wurde: Will he save the West – or ruin it?
Er und seine Mitstreiter ruinierten den Comic-Western. Um 1978 gab es, von ein paar Reprints abgesehen, keine eigenständige Western-Comic-Produktion in den USA mehr. Und wieder waren es die Europäer, die in die entstandene Lücke stießen. Diesmal waren es vor allem französische und belgische Zeichner und Autoren, die die Western-Comics mit neuen Inhalten versahen, neue zeichnerische Effekte einführten und damit auch den amerikanischen Markt eroberten. Die europäischen Western-Comics gingen einen den europäischen Western-Filmen entgegengesetzten Weg. Sie forderten mehr geschichtliche Genauigkeit, und die meisten Serien, wie »Lieutenant Blueberry«, »Comanche« oder, später, »McCoy«, sind von einer unglücklichen Liebe zur Geschichte Amerikas geprägt. Gleichwohl sind auch sie Dokumente der Entfremdung, sie sehen genauer hin, als das amerikanische Western-Comics je getan haben, und ihre Zivilisationsparabeln enden europäisch-romantisch. Nur als radikaler Aussteiger kann dieser Westerner überleben und hat nirgends die Wahl, etwas anderes als ein Fremder zu sein.
Aber das Verschwinden der amerikanischen Western-Comics ist nicht allein als Reaktion auf die Krise des Westernfilms zu deuten. Auch die Comics erlebten in der Nixon-Ära eine tiefgreifende Veränderung, die zuallererst aus einer ökonomischen Krise entstand. Aufgrund von Rohstoffverteuerungen, geänderten Copyright-Gesetzen und eines Strukturwandels des nationalen Vertriebssystems wurden die Comics in den siebziger Jahren immer teurer (ein Trend, der in den achtziger Jahren zu einem Zusammenbruch des traditionellen Preisgefüges führte). Der Konsument wurde daher vor eine Entscheidung gestellt, die er vordem nicht hatte. Im Zweifelsfall entschied er sich für jene Genres, in denen Elemente mehrerer traditioneller Genres aufgehoben waren, phantastische Sujets, in denen immer wieder Western-Zeichen und Western-Handlungsstrukturen auftauchten. Bemerkenswerterweise erschienen nun Westerner vor allem als Bösewichte, Gespenster einer wilden Vergangenheit, denen die Superhelden entsprechend begegneten: Es mußte ihnen irgendwie gelingen, diese historischen Revenants in ihre eigene Zeit zurück zukatapultieren.
Indianer, Cowboys, Sheriffs und Outlaws als Schreckgespenster einer neuen Zivilisation, das war die Ausgangsposition zu Beginn des Reaganismus, und als sich im Zuge des Videobooms die Chance für einen neuen Billigfilmmarkt auftat, da waren es vor allem solche Gespensterwestern, die gedreht wurden. Westerner wurden aus ihrer Zeit geschleudert, Mafia-Killer flüchteten umgekehrt in die Western-Zeit, wo sie sich mit den Outlaws gegen ihre zeitreisenden Verfolger verbündeten, brave US-Bürger wurden plötzlich in den wilden Westen versetzt, wo nichts als rüdes Faustrecht herrschte usw. Was mit dem Auseinanderfallen der Western-Ikonographie und dem Nationalepos begonnen hatte, führte über die Dekonstruktion des Westens von einer historischen Übergangszeit in Kultur, Technologie und Moral zu einem Zustand absoluter Entfremdung. Nach seiner gewaltigen ökonomischen Krise befand sich die amerikanische popular culture in einer sonderbaren Situation: Wie etwas mit Gewalt Verdrängtes tauchten Elemente des Western an allen Ecken und Enden auf: Filme wurden »wie Western« erzählt, Roadmovies, »Endzeitwestern« und Kriminalfilme fielen auf das amerikanische Kino par excellence zurück, ohne sich dazu bekennen zu können, und Westerngestalten spukten durch die Alpträume. Der Tod hat, wie in »House 11«, das Gesicht eines Westerners.
Bis hierher scheint alles klar, viel zu klar: Eine Nation, die Vereinigten Staaten von Amerika, macht eine Krise durch, erfährt nacheinander die Besiegbarkeit seiner Rüstungstechnologie, die Korrumpierbarkeit seiner Politik, die Ungerechtigkeit seines Gemeinwesens, und sie entfremdet sich daraufhin vom eigenen Nationalepos; aus einer Mischung aus Scham, Trotz und Paranoia wird es von der populären Kultur demontiert, und seine größten Künstler bewahren ihre Würde, indem sie den Western in die Luft sprengen. Die herabregnenden Trümmer verursachen Wunden hier und dort, werden aber mit Feuereifer in die Trashästhetik der neuen Massenproduktion eingebaut.
Nun aber, 1980, beginnt ein neuer Nationalstolz als Fassade einer radikalen gesellschaftlichen Umschichtung zu wirken. Freilich: Vieles bleibt da merkwürdig zwielichtig, zum Beispiel die weinerlich nuschelnde Stimme des Präsidenten, der Verlust ganzer Territorien an Elend und Verbrechen, die Teilung der Gesellschaft in übergesunde und kranke Menschen.
Unter den Bedingungen der Reaganomics zu leben, verlangt ein bestimmtes Verhältnis zum Körper einerseits, zur Technologie andrerseits. Zwei Grundstrategien führen möglicherweise zum Erfolg: eine Symbiose mit der Maschinerie der neuen Kommunikation oder die maschinelle Perfektion des eigenen Körpers. Zu den amerikanischen Kino-Helden der achtziger Jahre gehören zum einen die urbanen Aufsteiger, die kopfüber des Nachts in den Sumpf der Wirklichkeit tauchen, und panzerartige Muskelkampfmaschinen, die ganz allein Armeen mehr oder minder kommunistischer Feinde erledigen. Ihre Beziehung zum Western liegt nicht allein in einer inszenierten technologischen Regression, die allerdings stets noch einerseits vor der Western-Technologie halt macht, beim Maschinengewehr, andrerseits dahinterzurückgreift, auf Nacktheit und Faustkeil. Rambo, zum Beispiel, ist ein Flüchtling der militärisch-wirtschaftlichen Rüstungskultur, der in Dschungel und Wüste zum Indianerspielen geht. Die historische und mythische Entgrenzung des Nationalepos hat unter anderem zur Folge, daß der Vietnamkrieg in den mythischen Strukturen eines Western mißdeutet werden kann, und daß die rebarbarisierten Zonen des Asphaltdschungels als das Land gesehen werden können, in das zuerst die autarken Pioniere geschickt werden müssen, die Pfadfinder der Zivilisation, bevor die Ordnung legalisiert werden kann.
Da die Western-Ikonen und Moral-Partikel also nahezu beliebig verwendet werden können, in einem steten Diskurs der Unterwerfung von Geschichte unter den beständigen Fluß der Bilder und Erklärungen der populären Kultur, alles und nichts erklärend, das Gute ebenso wie das Böse beschreibend, muß jeder Rekonstruktionsversuch gegen all das stehen, was sich der frei floatenden Fragmente bemächtigt hat: Würden Western wieder funktionieren, müßte dies zu einer Reorganisation der ästhetischen Produktion auch in vielen anderen Bereichen der populären Kultur führen.
Das kann schon deswegen nicht geschehen, weil der Westerner zum Körper und zur Technologie ein der Reaganistischen Kultur diametral entgegengesetztes Verhältnis hat. Sein Körper ist kräftig, aber alles andere als perfekt. Er ist, schon bevor das Drama beginnt, an Körper und Seele ein wenig verkrüppelt, hinkend, wie Kapitän Ahab, wie der originale Hopalong Cassidy oder wie Walter Brennan. Er muß seinen Körper nicht noch mehr erfahren, zahlreiche Ritte, Prügeleien, Verwundungen haben das ihre schon getan; er ist in seinem Körper erst richtig zuhause, wenn er in einem Schaukelstuhl sitzt. Sein Körper verlangt nicht nach narzißtischem Ausbruch, sondern nach Ruhe, was unter anderem damit zusammenhängt, daß er seit den vierziger Jahren eigentlich schon immer ein bißchen zu alt für seine Taten gewesen ist. Er schafft, was er an Zivilisation zu schaffen hat, stets mit gleichsam letzter Kraft, das ist dem Ernst der Sache angemessen. Und er wendet alles das an Technologie an, was zur Verfügung steht; er ist, wenn auch nicht mit Begeisterung, technologisch auf der Höhe seiner Zeit. Der Westerner hat Zugang zu jeder Technologie, die es gibt, ein Mythos, der im zweiten Weltkrieg bis hin zur Invasion noch einmal rekonstruiert wird. Der Western ist in gewisser Weise ein historischer Kompromiß zwischen Körper und Technologie, seine Helden schaffen, unter Opfern, die Einheit. Die Bewegung der Hand zum Colt, das Ziehen und Zielen in einem, geht durch den ganzen Körper, und jedes technologische Mittel bekommt seine Würde erst durch seine Übersetzung in eine körperliche Bewegung.
Die »Modernisierung« der achtziger Jahre läßt eine solche Körpererfahrung, die trotz ihres kriegerischen Gehalts im Grunde eine perfekte Darstellung der klassischen Vorstellung von ARBEIT ist, nicht mehr zu. Der Körper ist mehr und mehr aus dem Produktionsprozeß ausgeschlossen (und wer nichts anderes als seinen Körper zu bieten hat, sieht sich als ganzes vertrieben), und auch soziale oder historische Konflikte werden zunehmend unter Ausschluß aller Körperlichkeit geführt. Die narzißtische Rekonstruktion des Körperlichen, ein Hauptanliegen des reaganistischen Films, kann in der Gestalt des Western nicht funktionieren; sie muß stattdessen zu einer Zweiteilung in den Ritus des Körpers und in den Ritus der Technologie führen. Die Einheit von Technologie und Körper, von Raum- und Zeiterfahrung, von Zivilisierung und Einfachheit ist uns ungefähr so fern wie ein Traum in Jamben. Ich bezweifle, daß ein Mensch, der die »Modernisierung« der achtziger Jahre miterlebt hat, in der Lage ist, den Rhythmus eines Western, seine Sicht auf Land und Arbeit, auf Zeit und Verlust zu finden, ungeachtet der Tatsache, daß man sich Western in der einen oder anderen Form gleichsam als ökologische Dekonstruktion einer zunehmend fragmentarischen Gesellschaft erträumen kann.
Der Verlust der Ganzheit des universalen Männermärchens ist ein Preis, der nicht nur für die »Modernisierung«, sondern auch für die Fähigkeit zu ihrer Analyse zu zahlen ist. (Gestehen wir ruhig, daß unsere gelegentlich aufscheinende Sehnsucht nach dem Western nicht nur eine Sehnsucht nach dem perfekten moving picture ist, eine Sehnsucht nach einer konjunktivisch-unmöglichen anderen Geschichte der amerikanischen Zivilisation, sondern auch eine nettere Form von Reaktion.) Der Western als Medium der Kommentierung sozialer und kultureller Entwicklungen ist durch andere Genres längst ersetzt; die Beziehung zwischen Körper und Technologie der Reagan-Ära beschreiben am genauesten die Horrorfilme. Was freilich den Verlust des Nationalepos anbelangt, so scheint die amerikanische Gesellschaft wieder einmal nur rascher zu sein. Sehen wir uns die Albernheiten an, mit denen Frankreich der Revolution gedenkt (und schweigen wir von unserer Unmöglichkeit, mit der Geschichte über den Mythos zu kommunizieren), so scheint klar, daß das Sterben des Western, zum Beispiel, das Sterben der Nation vorwegnimmt. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß unsere Potemkins auch die Kulissen abbauen lassen. Die paar staubbedeckten Leichen, Löcher im Schädel, Abschiedsgrinsen, die darin gefunden werden, sollten wir dann mit Anstand begraben.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in konkret 10/1989
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