„Heimat ist ein Raum aus Zeit“, das ist so ein Filmtitel, der seine Dechiffrierung durch den Film selber erwarten lässt. Und mit einer Dechiffrierungsarbeit beginnt der Film ja auch auf der Ebene der Bilder: eine Stange, die in den Boden gerammt ist, vor einem alten, von Efeu berankten Baum. Langsam, sehr langsam bewegt sich die Kamera nach oben, und endlich ist das etwas unbeholfen gestaltete Schild zu sehen: „Nach der Legende stand hier Großmutters Haus“. Dann sehen wir lebensgroße Aufstellfiguren, von einem Jäger, einem Wolf, der Großmutter und natürlich dem Rotkäppchen. Dahinter die natürlichen Geräusche eines deutschen Waldes. Die Fährte ist gelegt: ein deutscher Mythos, eine der wildesten Familiengeschichten auch, ein Gesellschaftsbild. Märchentherapie: Wenn ich Rotkäppchen bin, wer ist dann die Mutter, die mich auf den Weg schickte, wer die kranke Großmutter, wer der gierige Wolf und wer der rettende Jäger, der eine Wiedergeburt ermöglichte? Ambivalent genug.
Pier Paolo Pasolini hat zwischen dem Kino der Prosa – einem Kino der äußeren Erscheinungen, die nach einem Zusammenhang suchen – und einem Kino der Poesie, das in Bild und Bewegung nach dem inneren Geheimnis sucht, unterschieden. Es gibt nur wenige Filme, die nichts als Prosa bieten (sieht man von audiovisuellem „Content“ als Alltagsspeise ab), und noch weniger, die reine Poesie vermitteln. Also kommt es auf die Beziehung von beidem an, auch und gerade beim „Dokumentarfilm“. Überdies besteht die Kunst im Übergang: Einstellungen, die auf den ersten Blick noch nicht verraten, ob sie mehr Prosa oder mehr Poesie sind.
In „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ erscheint beides auf den ersten Blick klar gegeneinander gesetzt: Das Kino der Prosa – was man hier gleichsam wörtlich nehmen kann: Dokumente, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Entwürfe für Lebensläufe, die Zeugnis geben vom Werden und von den Trennungen der Familie Heise über drei Generationen hinweg. Dazu sparsam und passgenau fotografische Abbildungen, Kunstgegenstände, Objekte aus der Zeit; es geht gewiss nicht um ein nostalgisches Wühlen in den Familiengeschichten. Der Regisseur Thomas Heise selbst trägt die Texte vor, in einem ruhigen, aber doch nicht gleichförmigen Duktus. Einmal, als es um einen Brief voller Ausstreichungen und Korrekturen geht, wird dies durch Stimmüberlagerung auf der Tonebene aufgenommen.
Die zweite Ebene bilden Einstellungen auf die Orte der Erinnerung, wie sie jetzt erscheinen, in langen, ruhigen Schwarzweißeinstellungen, mit gewissen Leitmotiven: immer wieder Bahnen und Bahnhöfe, Wälder und Abräumhalden. Manchmal bilden diese poetischen Aufnahmen vor allem einen freien Assoziationsrahmen, manchmal erscheinen sie freilich auch als Kommentare und Syntagmen, etwa wenn die Aufforderung, einen Brief nicht zu beantworten mit dem Bild vom Prellbock auf einem Abstellgleis korrespondiert oder wenn Abbrucharbeiten oder ein Straßeneinbruch zu den Kämpfen zwischen einem offenen Marxismus und der Restriktion des Staates zu sehen sind. Wir müssen uns also an eine solche Filmsprache gewöhnen, die immer wieder neue Dechiffrierungen aufgibt, kleine dialektische Aufgaben stellt, den Raum aus Zeit nie als den „langen, ruhigen Fluss“ erscheinen lässt, den uns andere Filme vormachen, sondern als Abfolge von Widersprüchen, Krisen und bizarren Synthesen. Diese Filmsprache ist ihrem Wesen nach aufklärerisch, sie entwickelt daraus aber auch ihre Momente von Nähe und Zärtlichkeit.
Um zu begreifen, was ist, mit den Menschen und ihrer Welt, müssen wohl stets drei Ebenen miteinander verbunden werden: Die Strukturen (die Herrschafts- und Besitzverhältnisse), die Kulturen (die Bilder und Sprachen, die Riten und Gesten) und die Biografien (das Leben der einzelnen Menschen, die hier getrieben werden, sich entscheiden müssen). Es gibt kaum etwas, das den Zusammenhang zwischen diesen drei Ebenen so intensiv behandeln kann wie der Film, indem er sich zwischen Elementen bewegt, die die Ebenen miteinander verbinden. Und das ist eben schon die erste, die einfache Auflösung des Titels: Im Film wird Raum durch Zeit ausgedrückt, und Zeit durch Raum. Jedenfalls häufig. Thomas Heise erzählt also von den Biografien her, am Ende auch von seiner eigenen, und diese Blickweise hat auch ihre formalen Entsprechungen.
Zum Beispiel bewegt sich die Kamera vorwiegend von unten nach oben, von den Füßen zum Kopf, von der Materie zum Geist. Einen verblüffenden poetischen Effekt ergibt das zum Beispiel, wenn die Kamera sich, während von unglücklichem Begehren und von August Strindberg aus einem Brief vorgelesen wird, bei einem weiblichen Akt aus Gips nach oben bewegt – und dort fehlt der Figur dann der Kopf. Und wenn sich die Kamera in der dritten Dimension bewegt, dann eher auf die Menschen zu, es bleibt immer eine gewisse Isolation, kein Bild, das von sich behauptete, den größeren Zusammenhang zu sehen, weder im Damals noch im Heute. Das ist vollkommen angemessen und entspricht dem Empfinden der Personen, die sich ja beständig ein Bild von ihrer Situation und ihrer Umwelt zu machen versuchen, damals, als die Familie zwischen Wien und Berlin Opfer der faschistischen Verfolgung wurde, damals, als sie sich zwischen West und Ost neu formte, damals, als Wolfgang Heise Philosophie im Schatten eines Staates betrieb, in dem, wie es einmal heißt, sich das Wissen von der Macht getrennt hat, damals, beim Übergang von den zweien zu dem einen Deutschland, und heute, da der Regisseur um den nahen Tod der Mutter und um die moralischen Verwüstungen des Landes weiß und, wie wir alle, keine Lösung, keinen Ausweg erkennen kann.
Aber freilich: Die filigrane Montage von Biografie und Bildpoesie von erlesener Tristesse macht diese Puzzle-Reise durch das Leben der drei Generationen und ihrer Zeit auch zu einer etwas hermetischen Angelegenheit. Der Film übt nicht nur einen Sog aus, sondern hier und da auch eine gewisse Gewalt. Er lässt nicht sehr viel Raum zum Atmen, nicht viel Zeit für Abschweifung. Aber vielleicht ist auch das nichts anderes als eine cineastische Wahrheit.
Georg Seesslen
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alle Fotos | © Stefan Neuberger
erschienen in epd film | 23.08.2019
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