Der tearjerker – etwas unsanft eingedeutscht als „Tränendrücker“ – ist der kleine Bruder des Melodrams; während das Melodram von Schicksal und Geometrie handelt, von der wunderschönen Ausweglosigkeit der Liebe vor allem, geht es hier um Gefühle und Alltag, um die Organisation der Beziehungen. An die Stelle einer Metaphysik der Leidenschaften tritt eine Art kathartisches Mitleid; wir heulen uns über dem Elend künstlerischer Figuren über das eigene hinweg. Aber wenn uns das Kino gewalttätig, geil, melancholisch, blöde und besserwisserisch machen darf, dann darf es uns ja wohl auch sentimental machen. Mit ein bißchen Stil und Würde, wenn’s geht…
Geradeaus erzählt hat INTERSECTION eine einigermaßen bekannte Story: Ein erfolgreicher, wohlhabender Architekt lebt mit seiner Frau Sally zusammen, die vor allem die andere Hälfte des Erfolges: Planung und gesellschaftliche Repräsentation, darstellt. Sie haben ein tolles Haus, und irgendwie passen sie auch zusammen. Aber hoppla, was ist das? Die Frau findet es wichtiger, zu telefonieren, als mit ihrem Mann im Badezimmer zu schlafen. Und sie hat auch immer so eine strenge Frisur. Die Tochter jedenfalls ist sehr, sehr nett und tanzt Ballett und ißt zu wenig.
Also verliebt sich Vincent in die Journalistin Olivia, von der uns Drehbuchautoren und Regisseur leider mitzuteilen vergessen, was sie denn gar so von Sally unterscheidet, außer daß sie rote Haare hat und schon mal angetrunken auf der Eröffnung eines von Vincent entworfenen Museums erscheint. Vielleicht macht sie sich nichts aus Telefonen im Badezimmer. Jedenfalls steht also Vincent nun zwischen den Frauen, was kompliziert ist, weil Sally immer noch seine Mitarbeiterin im Architekturbüro ist und Vincent ihr nicht vollständig entsagen kann, obwohl ein anderer Mann des Morgens Pfannkuchen für seine Tochter macht, dem Vincent irgendwann auch im Pissoir begegnet. Vincent also kann sich nicht richtig entscheiden zwischen den beiden Frauen, die offenbar beide nur eine Totalität des bürgerlichen Heims als Glücksvorstellung im Kopf haben (kaum hat er das Gefängnishaus der ersten Frau verlassen, soll er eins für die zweite Frau bauen), und das ist, wie sein Mitarbeiter – der bewundernswerte Martin Landau in einer verschenkten Nebenrolle – bemerkt, in der Tat „ein schlechtes Design“.
Vincent ist unterwegs in seinem schicken deutschen Sportwagen; er weiß nicht weiter. Er schreibt einen Brief an Olivia: Sie soll sich einen anderen suchen, einen, der keine Geschichte hat, keine Frau und keine Tochter. Aber irgendwas hält ihn davon ab, den Brief loszuschicken. In der kanadischen Tankstellen-Morgenstimmung kommt schließlich ein alter Mann mit seiner Enkeltochter vorbei. Die rührende Kleine schenkt ihm ein Kuchenstück und auf einmal weiß Vincent, daß er mit Olivia noch einmal die Freuden der Familie erleben will. Aber weil das dann doch zu banal wäre, schickt der Film Vincent in dem deutschen Flitzer mit dem Stern in eine tödliche Begegnung mit einer Hippie-Familie und einem Truck.
Mark Rydell erzählt diese Geschichte nicht so linear; er setzt sie strukturiert durch das Bild der Autofahrt als Puzzle zusammen, in der wahrscheinlich falschen Hoffnung, ihr dadurch etwas Geheimnis und Bedeutung zu geben und in dem schon eher überzeugenden Versuch, die Akzente von der Konstruktion der Story auf die Darstellung der Charaktere zu verlagern. Aber denen fehlt ganz erheblich die Substanz; Richard Gere: ein charmantes, feiges Arschloch in der Midlife-Krise; Sharon Stone: die Karrierefrau, die sich ihre Opfer nicht eingestehen will; Lolita Davidovich, die „Selbständige“, die auch nichts anderes will als ein trautes Heim und so weiter. Niemand darf in diesem Film etwas lernen oder erkennen, und alle drei Hauptdarsteller, das sieht man, können mehr, hätten mehr getan, wenn man es ihnen nur abverlangt hätte.
BEGEGNUNGEN ist so etwas wie das Remake eines Films von Claude Sautet (oder die Neuverfilmung des Romans, der ihm zugrunde liegt), LES CHOSES DE LA VIE (Die Dinge des Lebens, 1969) mit Michel Piccoli, Romy Schneider und Lea Massari. Er erzählt daher, ganz nebenbei und aus Versehen, etwas vom Unterschied der Konzeption von Liebe in der einen und in der anderen Gesellschaft. Sautet, kein Genie, nur knapp ein Handwerker des europäischen Gefühlskinos, erzählt von einem Mann, der drei Frauen wirklich liebt, und der sich nicht entscheiden kann, weil er an eben jenen Dingen des Lebens hängt, die emotionale Sicherheit versprechen und zu denen etwa ein Segelboot gehört, das in dem amerikanischen Film bloß noch als bauchige Set-Decoration unter anderen mehr oder weniger attraktiven Ausstattungselementen auftaucht; Rydell erzählt bloß von einem Mann in einer Zwickmühle zwischen verschiedenen Formen von Lebensdesign. Never say never: aus einem ziemlich schlechten Roman von Paul Guimard ist ein fast genauso schlechter Film von Claude Sautet geworden und aus dem ein noch viel schlechterer Film von Mark Rydell. Nicht einer Figur in BEGEGNUNGEN glauben wir, daß sie überhaupt ahnen könnte, was Liebe ist. Weshalb auch das Hauptziel des tearjerkers verfehlt wird: Das Taschentuch bleibt in der Tasche. Und unsere Sehnsucht im Kino wird zerstört, wenigstens hier vom Sicheren ins Schöne zu gelangen.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film 4/94
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