Ein Film über Frauen, Männer, die Liebe und den Tod
Pedro Almodóvar war einer der populärsten Vertreter der „movida“, jener Anti- und Post- Frankistischen Bewegung in Spanien, die auf den ersten Blick mehr mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll als mit Politik zu tun hatte. Almodóvars Filme waren schrill, melodramatisch, komisch, künstlich. Allerdings auch bloß auf den ersten Blick gesehen. Wenn man sie genauer ansieht, entdeckt man darin eine tiefe Menschlichkeit, einen genauen Blick auf die Brüche und Konstanten der spanischen Gesellschaft auf dem Weg von der Isolation in der Zeit der Diktatur direkt in die Postmoderne, und nicht zuletzt kann man so etwas wie den Entwurf neuer Lebensformen darin sehen. Die wahre Menschlichkeit, die steckt im Leben all derer, die das bürgerlich-faschistische Regime verachtet hat, bei den Junkies, Transvestiten, Huren und Künstlern. Wie tief man Almodóvar-Filme auch anschauen mag: Man versteht, dass die Kunst dieses Filmemachers in einer unnachahmlichen Verbindung von Heiterkeit und Ernst, von Vergnügen und Trauer, von Karneval und Tragödie besteht. Wie bei Cervantes oder Juan Madrid, meinetwegen.
Und noch etwas zeichnet den Regisseur Almodóvar aus. Er hat ein untrügliches Gespür für Darsteller von mythischer Qualität. Victoria Abril, Rosy de Palma, Antonio Banderas – Bewohner des nächtlichen Almodóvar-Landes. Für „hable con ella“ hat Almodóvar die Sängerin Rosario Flores für den Film entdeckt, in der Rolle einer Stierkämpferin, eine geheimnisvolle androgyne Schönheit, die gerade erst auf ihrer jüngsten Platte, „Mucho Flores“ sich zu ihrem berühmten Namen bekannt hat: Eine Familie von Flamenco-Musikern, die immer wieder die Spannungen zwischen Zigeuner-Kultur und Mainstream aushalten musste. Ein Jahr nach dem Tod der geliebten Mutter hat sich Rosarios Bruder mit einer Überdosis ins Jenseits befördert. Menschen der movida, wie von Almodóvar erfunden, könnte man meinen. Oder umgekehrt: Pedro Almodóvars Filme sind unter anderem realistische Bilder aus einer Kultur des Übergangs, zwischen einem alten und einem neuen Spanien, dem Stierkampf, der Herrschaft der Mütter, dem Kult des Todes, auf der einen, der Lebensgier, der Selbsterfindung, den sozialen Saltos zwischen Karriere und Subkultur auf der anderen Seite.
Von solchen Beziehungen einer alten und einer neuen Mythologie handelt auch „hable con ella“, und sie handelt von der Liebe und dem Tod, was in diesem Fall heißt, von der Liebe zweier Männer zu zwei mehr oder weniger toten Frauen. Da ist der Journalist Marco, der sich in die Matadora Lydia verliebt, die gleich darauf, das kennen wir aus der Mythologie des Stierkampffilmes, in der Arena dem Stier unterliegt. Schwer verletzt und ohne Aussicht, aus der Ohnmacht zu erwachen liegt Lydia im Krankenhaus. Dort lernt Marco den Krankenpfleger Benigno kennen, der sein Leben ganz der jungen Balettänzerin Alicia gewidmet hat, die seit einem Autounfall im Koma liegt. Sprich mit ihr, das ist der Ratschlag, den Benigno Marco gibt. Und er macht es ihm vor, zum Beispiel, wenn er Alicia von seinen Besuchen in der Kinemathek erzählt. Almodóvar liefert dazu mit dem Stummfilm „Der schwindende Liebhaber“ (noch hübscher klingt das auf spanisch: „Amante menguante“) einen ebenso komischen wie anrührenden Film-im-Film, den man, wenn man will, auch als psychologischen Schlüssel für die Geschichte der beiden Männer und ihrer Liebe zu den mehr oder weniger toten Frauen benutzen kann. (Noch einen bekommt man, wenn man die Anfangsbuchstaben der Namen der Protagonisten nach ihrer Stellung im ABC hin besieht.) Was dann geschieht ist eine poetische Bizarrerie, eine Reise in die Konstruktion der Geschlechter und zugleich pure Kolportage. Es geht denn auch auf zwei Meldungen zurück, die die spanische Boulevardpresse in den neunziger Jahren beschäftigten (auch wenn sich die Geschichten selbst gar nicht in Spanien zugetragen hatten). In der einen erwachte eine Frau aus dem Koma, nachdem sich ein Pfleger an der Wehrlosen vergangen hatte, und man wusste nicht, ob man ihm nun den miesen Vergewaltiger oder den wundersamen Lebensretter sehen sollte; in der anderen gebar eine Frau, ebenfalls von einem Krankenpfleger missbraucht, ein Kind, ohne aus dem Todesschlaf zu erwachen. Mythologie plus Kolportage – bei Almodóvar ergibt das reine Filmpoesie oder einen „sexualpolitischen“ Diskurs – wie man es nimmt. Er dreht die Bilder der Kolportage so lange um die eigenen Achsen, bis sie ganz woanders sind, in uns selber drin, zum Beispiel. Und dass es bei diesen Drehungen bis zum Schluss an Überraschungen nicht fehlt, versteht sich von selbst. Ach ja, und wenn man sich da auch noch drauf einlassen will, gibt der Regisseur noch einen Schlüssel für seinen Film. Er könnte, sagt Almodóvar, auch heißen: „Die Einsamkeit, möglicherweise“.
Georg Seesslen
Text geschrieben: 2002
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