MR TURNER, UND WIE ER DIE WELT SAH

MR. TURNER von Mike Leigh ist ein sehr schöner Film über einen der bedeutendsten Maler des neunzehnten Jahrhunderts. Einen, der den Weg in die Moderne begleitete, der einerseits das Walten der Natur in immer waghalsigeren Farbschichtungen beschwor, andrerseits aber auch ein Auge für die neue Technologie, die Dampfkraft, das Feuer der Industrialisierung hatte. William Turners Bildwelt wird vor der Kamera von Mike Leighs stetem Mitarbeiter Dick Pope lebendig, der schon mit NICHOLAS NICKLEBY ein Dickens-Faible bewies und der hier, man kann es wohl kaum anders sagen, einfach schwelgen darf. Da darf man im Kino, ein wenig jedenfalls, mal wieder hin und weg sein. Und bewundern, wie zurückhaltend und kompositorisch die beiden ihre Turner-Zitate einsetzen.

Aber Mike Leigh ist auch in einem so „schönen“ Film eben immer noch Mike Leigh. Also ein Regisseur, der kauzige Lebens- und Überlebenskünstler liebt, dessen Sympathien den Leuten unten gilt und der etwas zu sagen hat. Ich bin deswegen nicht sicher, ob „schön“ in diesem Zusammenhang ausschließlich als Kompliment zu verstehen ist. Auf jeden Fall ist es nicht das übliche Kostüm-Biopic. Denn in einem Film vom Mike Leigh sehen wir nicht nur, wofür einer wie William Turner kämpft, um das Licht in seinen Bildern vielleicht, sondern auch gegen wen. Vielleicht ist dieser Film über „Mr. Turner“ in seiner zweiten Lebenshälfte ein bisschen zu schön, ein bisschen zu pittoresk, ein bisschen zu schwelgerisch und ein bisschen zu Charles Dickens-mäßig an kernigen, ganz nahe an sanften Karikaturen gezeichneten Figuren, um der rebellischen Kraft dieses Malers ganz gerecht zu werden. Und vielleicht sind wir auch in Timothy Spall, den grandiosen Schauspieler, zu sehr vernarrt, um den ikonographischen Wandel zu erleben, den William Turner einleitete. Aber hey, auch ein Mike Leigh darf einmal träumen.

Zu der Zeit, da der Film einsetzt, 1826, ist William Turner schon über fünfzig Jahre alt und hat schon ein paar dramatische und ein paar große Elemente seines Lebens hinter sich. Als Künstler ist er weitgehend anerkannt, als Ehemann, Familienvater und vielleicht einfach als umgänglicher Zeitgenosse dagegen eher gescheitert. Zusammen mit seinem Vater, der den Autodidakten einst nach Kräften förderte, und mit dem er eine innige Gemeinschaft pflegt, und seiner Haushälterin, eher Gelegenheitsmätresse als Geliebte, lebt er zurückgezogen als exzentrischer Einzelgänger und doch hoch verehrtes Mitglied der Royal Academy. Alles was er sieht will er malen, die Mädchen in den Bordellen so sehr wie den Sturmwind über der winterlichen See, den er erlebt, während er im Krähennest an der Spitze eines Mastes angebunden ist. Natürlich holt er sich dabei eine Bronchitis, und die wird den Rest seines Lebens bestimmen, in dem er einerseits noch einmal ein kleines Glück mit einer Witwe an der See erlebt, andrerseits aber auch heftige Angriffe auf seine mehr und mehr entgrenzte und befreite Malerei, die auch vor den Augen des Königspaares ganz und gar keine Gnade mehr findet. Und dann bietet ihm ein Millionär 100 000 Pfund für alle seine Bilder an. Aber Turner schlägt das Vermögen aus, er will, dass seine Bilder dem ganze Volk zur freien Verfügung stehen. Wenn das nicht ein Statement zum derzeitig verrückt spielenden Kunstmarkt ist! Mike Leigh inszeniert das, als sei es das Vermächtnis des Malers, das er direkt in den Kinosaal richtet und zugleich der Appell eines Filmemachers, der sich vielleicht immer ein bisschen so gefühlt hat wie Mr. Turner. Einer der sehen will, in der Zeit der Blindheit und der Dunkelheit. Am Ende seines Lebens wird William Turner mit dem Erfolg einer vollkommen neuen Malerei, dem Mythenzauber der Präraffaeliten, konfrontiert, die sich der Moderne radikal verweigern. So wie ein realistischer Filmemacher wie Mike Leigh sich von einem Kino der Effekte und der Traumwelten verdrängt sehen mag, das partout keine Lust hat, sich dem Leben zu stellen.

Beides, dieses Portrait eines großen Malers, der nie den Ehrgeiz hatte, zur Welt der Reichen und der Mächtigen zu gehören, und das verkappte Selbstportrait eines Filmkünstlers, der sich immer wieder gegen den Bilderpapp der Traumfabriken wehrte, ist ein bisschen melancholisch geraten. Durchdrungen von Mike Leighs ganz eigener Menschenliebe und seinem Humor. Und eben manchmal einfach nur schön.

Georg Seeßlen

zuerst erschienen in Strandgut

Mr. Turner – Meister des Lichts, von Mike Leigh (Großbritannien 2014)