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Xavier Dolan wird es selbst langsam Leid haben, dieses „Wunderkind“ und „kürzeste Verbindung von Fassbinder zu Hitchcock“-Raunen der Kritik. Jedenfalls hat er angekündigt, sich erst einmal vom Film zurückzuziehen um, ehrlich wahr, Kunstgeschichte zu studieren. So ist „Tom à la ferme“ zumindest so etwas wie der Abschluss einer Werkgruppe. (Nun sehen wir uns noch „Mommy“ an, dann wird’s schon Zeit für eine cineastische Bestandsaufnahme, so schnell kann es gehen.)

Bei dem Film, der hierzulande den Titel „Sag’ nicht, wer du bist“ bekommen hat (man könnte ja „Psycho“ auch gleich „Der Mörder, der seine Mutter war“ nennen) handelt es sich zum ersten Mal um einen vorhandenen Stoff den er verfilmt hat, nämlich um das gleichnamige Theaterstück von Michel Marc Bouchard. Trotzdem ist es wieder Dolan pur geworden, nicht nur, weil er Regisseur, Hauptdarsteller, Drehbuchautor, Produzent und Cutter in einer Person ist, ein totaler Filmemacher mithin. Der Film atmet in jeder Einstellung und in jedem Schnitt Dolan, und ob man das nun besonders mag oder nicht, die Intensität, die von der Leinwand kommt, lässt niemandem mit Augen und einem Herzen unberührt.

Die Geschichte von „Tom à la ferme“ ist denkbar einfach: ein Abschiedsbrief, ein Selbstmord, so fängt das an. Der junge Werbetexter Tom (Dolan) kommt zum Begräbnis seines Geliebten Guillaume aufs Land, auf die Farm, die Guillaumes Mutter und sein Bruder schlecht und recht über Wasser halten. Die Mutter weiß offensichtlich nichts von der Homosexualität ihres Sohnes und soll es auch nicht erfahren. Dagegen beginnt der Bruder ein gewalttätiges, laszives, verzweifeltes Spiel mit ihm. Tom täte weiß der Himmel gut daran, diesen End-Ort so rasch als möglich wieder zu verlassen. Aber irgendein angel exterminador hält ihn hier fest und vereitelt, zum Teil mit drastischen Mitteln, jeden Fluchtversuch. Stattdessen spielt Tom mit, es wird sogar eine „Geliebte“ für Guillaume eingesetzt, um die Illusion aufrecht zu erhalten. Welche Illusion? Niemand weiß wirklich, was die anderen wissen, und der Zuschauer weiß es auch nicht. Das ist der Hitchcock-Aspekt. Und Tom? Der sehnt sich nach Liebe. Und bleibt doch ein Satansbraten. Fremd. Das ist der Fassbinder-Aspekt.

Man kann das, wenn man will, als ein „psychologisches Kammerspiel“ (mit gelegentlichen Ausblicken in ein trostlos schönes Land) sehen, oder auch als einen Thriller, der gewisse Konventionen des Genres und gar die Auflösungen radikal verweigert. Natürlich ist es auch ein schwules Melodrama und ein aggressiv zärtliches Annähern an eine Vorstellung von „Familie“. Aber all das trifft nur sehr bedingt, denn Dolan unterläuft selbst solche relativierte Zuschreibungen. Es ist, wie alle seine Filme, eine Bilderzählung aus einer fundamentalen Doppelperspektive: Eine Ich-Erzählung bis in jeden Blick hinein, aber auch eine dramatische Verfremdung, bis in den Haarfarben-Wechsel des Protagonisten. Ein Außenblick in eine Innenwelt. So etwas kann nur das Kino. Das gute Kino.

Dolans Trick ist die schöne Offenheit seiner Erzählung. Erklärungen in diesem seltsamen Beziehungsdrama werden hier und da angeboten, da ist nichts zufällig oder willkürlich. Aber sie verhalten sich auch widersprüchlich und lückenhaft. Die Helden dieser kleinen, dramatischen Geschichte verstehen sich nicht selbst, und schon gar nicht verstehen sie sich von selbst. Man sieht nur, dass es nicht nur um Liebe, nicht nur um Sex geht, sondern vor allem um Macht. Die Gewalt, vielleicht sogar der Tod liegen förmlich in der Luft. Und da ist niemand, auch Tom / Dolan selber nicht, dem wir von ganzem Herzen das Entkommen wünschten. Und da ist auch niemand, den wir in seiner Erbarmungswürdigkeit nicht trösten wollten.

Das Drama, wie gesagt, löst sich nicht wirklich auf. Es nimmt nur stets noch an Intensität zu. Das muss man mögen, wenn man ins Kino geht. Sonst kann es geschehen, dass man mehr geplättet als erleuchtet von Tom und der Farm Abschied nimmt. So oder so: Die Kunst, eine rein innere, wenn man so will, eine rein cineastische Spannung zu erzeugen, die macht Xavier Dolan so leicht keiner nach.

 

Georg Seeßlen

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Strandgut

Bilder: Kool (Filmagentinnen)