„Wir glauben nicht mehr an romantische Mythen“
Im zweiten „Nymphomaniac“-Teil schockt Lars von Trier mit drastischen Sexszenen. Der Regisseur räume in seinem Film mit den bürgerlichen Vorstellungen von der Liebe auf, meint der Feuilletonist Georg Seeßlen. Er zeige, welche archaischen Triebe die Menschen leiten.
BEITRAG HÖREN
Deutschlandradio Kultur vom 01.04.2014
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Georg Seeßlen,
Deutschlandradio Kultur 01.04.2014
Moderation: Frank Meyer
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. (Deutschlandradio Kultur)
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Frank Meyer: „Nymphomaniac 2“, der zweite Teil des Films von Lars von Trier, ab Donnerstag ist er in unseren Kinos. Und heute hat der Filmkritiker Georg Seeßlen das Buch „Lars von Trier goes Porno“ herausgebracht. Georg Seeßlen ist jetzt in München für uns im Studio, seien Sie willkommen, Herr Seeßlen!
Georg Seeßlen: Hallo!
Meyer: Was wir gerade gehört haben, diese klare Ansage: „Vor allem liebe ich meine Möse und meine schmutzige, versaute Lust“, das klingt ja nach einem klaren Bekenntnis zu weiblicher Lust. Ist das für Sie eine Botschaft dieses zweiten „Nymphomaniac“-Teils?
Seeßlen: Das ist es sicherlich, aber das wäre ein bisschen wenig. Ich glaube, da gibt es leichtere Formen, eine solche Botschaft zu vermitteln. Es ist vielleicht im zweiten Teil dieses Filmes sogar eine Art Negation des ersten Teils. Im ersten Teil ist diese weibliche Lust einfach nur ein naives, „unschuldiges“ Ausleben, und im zweiten Teil wird es eben zu einem Problem. Und ein Problem hat immer den Vorteil oder den Nachteil, dass man es eben auch in Sprache umsetzen muss. Und dieses Umsetzen in Sprache, eben durch eine solche rebellische Aussage in der Therapiegruppe, die hat auch was sehr Komisches.
Meyer: Ein Teil des Problems scheint ja zu sein – wir haben das gerade auch in unserer Einführung gehört –, dass die Heldin dieses Films, Joe, entweder Sex ohne Liebe findet oder Liebe ohne Sex. Ist das jetzt eine Erfahrung, die nur auf diese extreme Figur passt, oder ist das eine Grunderfahrung, die dieser Film transportiert, dass Sex und Liebe heute so sehr auseinanderfallen?
Seeßlen: Ich bin gar nicht sicher, ob das ein sehr heutiges Problem ist. Ich vermute mal, dass das ein Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaft seit mindestens 200 bis 300 Jahren ist. Was sich geändert hat und was vielleicht bei einem solch drastischen Film dann eine notwendige Ebene ist, das ist das Wegbrechen gewisser Mythen, die diesen Widerspruch ein bisschen maskiert haben oder zum Teil tatsächlich fiktiv aufgelöst haben.
Also, wir glauben nicht mehr an gewisse romantische Mythen oder wir glauben auch nicht mehr so sehr an die Möglichkeit, eine sehr vernünftige Form der Balance zwischen Begehren und Identifizierung oder Empathie zu finden. Aber der Grundwiderspruch – das macht diesen Film ja so spannend, dass er tatsächlich ein philosophischer Essay eigentlich ist –, dieser Grundwiderspruch, der ist sehr alt und sehr tief in uns.
Filmischer Essay zwischen den Extremen
Meyer: Und in diesem philosophischen Filmessay, was bedeutet da Sex eigentlich, wofür steht Sex?
Seeßlen: Man kann ja sagen, dass man das Wort Pornografie … Eine der vielen Grundbedeutungen bedeutet nichts anderes als „mit dem Geschlechtsteil schreiben“, im Gegensatz zu „mit dem Kopf schreiben“ oder so etwas. Und in dieser extrem zugespitzten Begegnung einer „nymphomanischen“ Frau und eines „asexuellen“ Mannes, der sich auch selber so bezeichnet …
Meyer: Das ist dieser Zuhörer, Seligman, der noch nie Sex gehabt haben soll.
Seeßlen: Nach seiner eigenen Aussage, genau. In dieser Begegnung dieser beiden Extreme spiegelt sich im Grunde genommen ein uraltes Menschheitsproblem zwischen Körper und Geist oder zwischen der Art, wie ein Geist mit einem Körper umgeht oder ein Körper mit einem Signal aus dem Bewusstsein umgeht.
Meyer: Sie haben sich angeschaut, wo Lars von Trier auch in anderen Filmen über „Nymphomaniac“ hinaus pornografische oder pornografieähnliche Szenen einsetzt. Sie kennen das natürlich aber auch von anderen Autorenfilmern, die auch auf dieses Mittel setzen, immer wieder auch in der jüngeren Filmgeschichte. Kann man denn sagen, dass Lars von Trier ganz anders mit Pornografie umgeht als seine Kollegen?
Seeßlen: Es gibt sicherlich so eine, würde ich sagen, Schule oder zumindest Regisseure, die informell miteinander verbunden sind, die gewisse Tabus überschreiten, ohne sie in der alten Form als Hype und Reklame und Attraktion einsetzen, sondern tatsächlich in einem größeren Zusammenhang der Diskussion, des Menschenbildes, wenn man so will. Es ist sehr interessant, dass die meisten dieser Regisseurinnen und Regisseure nicht nur nach dem Körper fragen, sondern gleichzeitig oft auch sehr religiös inspiriert sind, wie Bruno Dumont in Frankreich, der gleichzeitig die Frage nach dem stellt, wo liegt eigentlich Erlösung aus diesem Dilemma, Sexualität zugleich zu haben, gleichzeitig in sich und außer sich zu sein?
Meyer: Sie sprechen ja auch bei Lars von Trier direkt von religiöser Pornografie!
Ekstase als Ursprung von Pornografie und Religion
Seeßlen: Zweifellos. Es gibt ja so einen gemeinsamen Ursprung von Pornografie und Religion, das ist die Ekstase. Das ist nichts anderes die sich selbst überschreitende Erfahrung des Menschen, und sehr viele Menschen erwarten das eine und verdammen das andere, nämlich der religiöse Fanatiker, der auf die religiöse Ekstase wartet, der sich vielleicht sexuell kasteit, eben asexuell sein möchte, und auf der anderen Seite gibt es genauso viele Menschen wahrscheinlich, die diese Selbstüberschreitung oder diese Erlösung oder dieses radikale Ich-Sein, von dem Charlotte Gainsbourg in dem Film immer spricht, dieses sich wirklich zu erfinden und zu empfinden, in der Sexualität suchen. Das große Problem ist, dass diese beiden Dinge irgendwann mal in unserer Kulturgeschichte so stark auseinandergebrochen sind, dass sie in Feindschaft stehen, statt möglicherweise gemeinsam empfunden zu werden.
Meyer: Sie sprechen auch in Ihrem Buch, Herr Seeßlen, noch von einer anderen Verdammung, nämlich dass in von Triers „Nymphomaniac“-Film auch eine Verdammung der Moderne stecke. Inwiefern denn das?
Seeßlen: Also, die Moderne verdammt sich in gewisser Weise ja schon selbst. Auch das lässt sich ja in dem kleinen Ausschnitt zeigen, wo die Heldin über die Demokratie und die Political Correctness spottet. Dass sie nämlich sagt, die Menschen sind gar nicht fähig dazu, diese Freiheit zu haben, die ihnen das System möglicherweise gibt oder möglicherweise auch nicht gibt. Auch da glaube ich, dass es gar nicht darum geht, jetzt eine Position gegen die Moderne zu finden, sondern vielmehr darum, erstens zu sagen: Sehr viel von dem, was wir uns als Moderne vorgestellt haben, ist nichts anderes als eine Maskierung von sehr viel tiefer liegenden, sehr viel archaischeren Impulsen.
Und das Zweite ist, dass wir dieses Gefühl haben, wir hätten in der Moderne irgendwas erreicht in Bezug eben auf unsere Freiheit, unsere Selbstentfaltung, oder vielleicht sogar auch eben – im religiösen Kontext – der Erlösung ein wenig näher gekommen. Und genau da scheint mir Lars von Trier richtigerweise einen Pessimismus ins Spiel zu bringen oder zumindest eine ganz, ganz große Skepsis.
Meyer: Man fragt sich ja sofort auch, Herr Seeßlen … Also, wenn ich das lese, „Verdammung der Moderne“, frage ich mich ja sofort auch: Wo will Lars von Trier dann hin? Und dann fällt mir wieder ein, dass er ja beim Filmfestival in Cannes vor einiger Zeit einen Eklat provoziert hat, als er seine Sympathie für Adolf Hitler bekundet hat. Man fragt sich ja nicht erst seitdem, mit welchen politischen Haltungen dieser Regisseur eigentlich sympathisiert. Also, wenn er die Moderne verdammt, will er in irgendeinen früheren Zustand zurück, in einen früheren gesellschaftlichen Zustand?
Seeßlen: Ich frage mich, ob ein Filmemacher der richtige Adressat ist, solche Fragen zu beantworten. Ich glaube …
Meyer: Oder ich frage anders: Zeigen seine Filme etwas davon, von einer Sehnsucht nach einer anderen Form von Gesellschaft?
Seeßlen: Nicht nach einer anderen Form von Gesellschaft, dazu sind sie, glaube ich, wirklich zu abstrakt, dazu sind sie zu metaphysisch. Ich glaube, es hat viel mehr damit zu tun, dahin zu kommen, was unterhalb der Gesellschaft ist, was unterhalb der Kommunikationen ist, was auch unterhalb der Rationalisierungen ist. Also, die Dialektik der Aufklärung oder so was, die wird in Lars-von-Trier-Filmen sicher ziemlich gut dargestellt, nämlich dass diese Aufklärung oder dieser Versuch, alles vernünftig zu sehen, in ihr eigenes Gegenteil gemündet ist.
Meyer: Welche Rolle spielt Pornografie, Sexualität und Glauben in den Filmen von Lars von Trier? Darum geht es in dem Buch „Lars von Trier goes Porno“, nicht nur über „Nymphomaniac“, das Buch von Georg Seeßlen, heute im Verlag Bertz + Fischer erschienen. Und der Film von Lars von Trier, „Nymphomaniac 2“, der kommt am Donnerstag in unsere Kinos. Herr Seeßlen, vielen Dank für das Gespräch!
Seeßlen: Gerne!
Georg Seeßlen,
Deutschlandradio Kultur 01.04.2014
Moderation: Frank Meyer
Bilder: Nymphomaniac 2; © Concorde / screenshot website (Ausschnitt) nymphomaniac-derfilm.de
Georg Seeßlen
Lars von Trier goes Porno
(Nicht nur) über NYMPHOMANIAC
Sexual Politics 7
224 Seiten, 49 Fotos
Paperback, 10,5 x 14,8 cm
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Buch zu „Nymphomaniac“: Georg Seeßlen füllt einige Löcher
Pünktlich zum Kinostart von „Nymphomaniac Vol. 2“ erscheint Georg Seeßlens Abhandlung zu Lars von Triers vermeintlichem Porno-Projekt. Und passend zum Film füttert das Buch mehr die Neugier an, als dass es eine befriedigende Analyse böte.
Ein Buch über einen Film zu schreiben, während dieser noch durch die Arthouse-Kinos tourt, hat etwas Gehetzt-Gieriges. Da es sich bei dem Film um Lars von Triers „Nymphomaniac“ handelt, erscheint das aber passend – schließlich hat der Film Lust, Gier und Entsagung zum Thema. (spiegel.de)
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