Ein Western auf dem Mars 

Martin Scorseses „Gangs of New York“ beschreibt eine gesellschaftliche Ordnung, die sich durch ihre eigenen Gesetze zerstört. 

Es ist ein gern vergessenes Stück der amerikanischen Geschichte, an das Scorsese erinnert, ein Stück der Geschichte New Yorks und einer Gesellschaft, die sich gern als kultureller und sozialer Schmelztiegel begreift und in Wirklichkeit doch immer nur der Hexenkessel war, den Scorsese in den meisten seiner Filme beschrieben hat. Er hat für seinen neuen Film eine detailversessene Quelle benutzt, das gleichnamige Buch von Herbert Asbury aus dem Jahr 1928, das die Bandenkriege um 1863 beschreibt – und damit ein Stück aus dem Unterbewusstsein der Stadt.

Auf ihrem Weg nach Amerika mussten die Einwanderer durch die Hölle von Five Points, wo sich die ersten weißen Amerikaner mit barbarischer Gewalt gegen die Neuankömmlinge wehrten. Und während Präsident Lincoln seinen Krieg gegen den Sklavenhalter-Süden führte, wurden die Ghetto-Bewohner zwangsweise zum Militärdienst gepresst. Der Hafen, eine ausgesprochen sarkastische Einstellung bei Scorsese, ist ein Menschenumschlagplatz: Massen von armen Einwanderern kommen mit einem Schiff an, mit dem nächsten fahren sie an die Front, und ein anderes bringt sie in ihren Särgen zurück. Nur die Reichen können sich freikaufen. Gegen diese Zwangsrekrutierung kommt es zu einem Aufstand, der mit der ganzen Macht des Staatsapparats, unter Einsatz des Militärs gegen die eigene Bevölkerung, niedergeschlagen wird. Die Beseitigung der Trümmer, in die man dabei einen Teil der Stadt legte, werden als Maßnahme der Modernisierung und Urbanisierung inszeniert. So wird, Schicht für Schicht, Amerika zu Amerika. Aber das ist schon nicht mehr Teil dieser Erzählung von den „Gangs of New York“. 

Amerika ist für viele Europäer eine Verheißung. Aber mit wenigen Einstellungen macht Scorsese klar: Amerika ist ein Schock, eine Schule der Gewalt und der Korruption, und die Mafia ist offensichtlich nicht, wie es offiziell heißt, so etwas wie ein Parasit, der die frühe urbane Gesellschaft der Neuen Welt als unangenehme Begleiterscheinung der Einwandererströme befallen hat, sondern die Grundbedingung ihrer Entstehung, die Grundbedingung der neuen Form des Kapitalismus. Die Herrschaftsform, von der „Gangs of New York“ handelt, ist eine Herrschaft im Ghetto, die sich mit der Herrschaft von Geld und Politik arrangiert. Es herrscht ein rassistischer Krieg zwischen den „Natives“, den protestantischen Amerikanern aus England, Holland und Deutschland, und den neuen Einwanderern: den katholischen Iren zuerst, später den Italienern und Spaniern. 

Wir befinden uns in unterirdischen Gängen und Höhlen, die sich die irischen Einwanderer in die Felsen gegraben haben. Die Menschen sind in Lumpen gewandet; Hunderte statten sich mit primitiven Waffen aus. Als einen Western, der auf dem Mars spielt, hat Scorsese einmal seine Idee zu diesem Film bezeichnet, und im Blick auf den Kampfplatz verstehen wir, was er damit gemeint haben könnte. Es ist eine archaische Mischung aus mittelalterlichem Dorf und modernem Slum, eine Zone des Elends. 

Die „Native Americans“ zelebrieren einen bizarren Kult des Patriotismus: die amerikanischen Symbole sind für sie allein maßgebend. Die Iren mit ihren katholischen Ritualen erscheinen ihnen als Affront gegenüber den Freiheiten, denen ihre Väter Blut und Leben geopfert hatten. Die Frage ist, ob der Natives-Anführer Bill the Butcher selber an seine rassistische Ideologie glaubt, oder ob sie ihm nur Instrument seiner Herrschaft ist. Die Frage, so sagt Scorseses Film, ist so einfach nicht zu beantworten. 

Aber die neuen Bürger waren auch eine Manövriermasse in den Machtkämpfen der Stadt. William Marcy „Boss“ Tweed (Jim Broadbent), der Herrscher in Tammany Hall, der Machtbasis der Demokratischen Partei und ihrer käuflichen Politik, versuchte die Emigranten auf seine Seite zu ziehen, indem er sie mit dem Nötigsten versorgte. Die einen werden zu Schlachtvieh, die anderen zu Stimmvieh. Tweeds Verständnis von Demokratie ist einfach: „Nicht die Wahlzettel machen die Wahl aus, sondern die Zähler. Also zählt weiter.“ (Bei dieser Szene nicht an Florida und Bush junior zu denken, fällt zumindest amerikanischen Zuschauern schwer.) Aber Tweed spielt ein riskantes Spiel zwischen den Fronten. In einer Szene sehen wir, wie sich die verschiedenen politischen Kräfte darauf einigen, dass vier Männer öffentlich aufgehängt werden in Paradise Square, und damit ist klar, welche Funktion die Todesstrafe hat. Scorseses Film zeigt nicht Geschichte, er sieht sie mit den Augen seiner Protagonisten, das heißt: mit geblendeten Augen. Denn was sie sehen, ist genug, um den Glauben an die Außenwelt zu verlieren, daher glauben sie an sich selbst. Diesen Fehler werden die Ghetto-Bewohner bis zu Scorseses „Mean Streets“ wiederholen. 

In den Höhlen unter den Häusern Manhattans also bereiten sich irische Einwanderer vor wie zu einer heiligen Handlung im Zeichen des toten Kaninchens. Ein Mann namens Priest Vallon (Liam Neeson) steht an der Spitze der Dead Rabbits. An der Hand führt er seinen kleinen Sohn Amsterdam, als er seine Leute zur Schlacht gegen die Männer von Bill the Butcher (Daniel Day-Lewis) führt. 

Man kann es durchaus so sehen, wie uns spätere Einstellungen nahe legen werden: Bill the Butcher ist Gott und Teufel in Five Points, und Amsterdam Vallon (Leonardo DiCaprio) zugleich der Rebell, der Sohn und der Erlöser. Entsprechend zerrissen ist dieser Charakter. Es ist Hass, der ihn leitet, doch dann entsteht etwas, das mehr ist als nur die übliche Bewunderung für und Faszination durch den Feind, es liegt etwas von Liebe und Selbsterkenntnis darin. Darum wandelt sich seine Motivation, und DiCaprio macht das durch eine vergleichsweise einfache Verwandlung seines mimischen Grundcodes deutlich: Es ist nicht mehr der Grimm, der die Züge verdüstert und ihn zum Mord an diesem König der Unterwelt bestimmt, sondern ein historischer und moralischer Auftrag, das Wissen darum, dass nur durch diesen Mord ein anderes Leben möglich sein wird. 

Aber im Augenblick ist das alles fern, eine Möglichkeit im Blick des kleinen Jungen, der seinen Vater mit den Seinen in den Kampf ziehen sieht. Es folgt eine gnadenlose Schlacht, deren Intensität an die Einstellungen im Boxring von „Raging Bull“ erinnert. Der Zuschauer fürchtet um seine eigene Haut. Am Ende liegen zahlreiche Tote in Schlamm und Schnee, darunter auch Priest, dessen Tod durch Bill the Butcher den Kampf beendet hat. Amsterdam muss das schwere Sterben seines Vaters in sich aufsaugen, bis er von ihm durchdrungen ist, während der Blick des Metzgers auf ihm lastet. Das Sterben und das Sehen, wir kennen diese furchtbare Gleichung aus „Goodfellas„. Jetzt erst erfahren wir, wo und wann wir uns befinden: New York City 1846. 

Amsterdam verschwindet in einem Waisenhaus-Gefängnis. Als er entlassen wird, ist er gerade zwanzig. Er kehrt zurück nach Five Points, denn er hat nur Rache im Sinn. Aber mittlerweile kontrolliert Bill nicht nur seine Native Americans, sondern auch die irischen Gangs, oder das, was von ihnen übrig geblieben ist. Five Points ist sein Königreich. 

Bill erkennt sehr schnell in dem ruhigen, furchtlosen jungen Mann, der sich in einem Boxkampf bewährt, ein Gegenbild zu den Speichelleckern und Angsthasen, die ihn umgeben. So wird Amsterdam einer der Favoriten im engsten Umkreis von Bill the Butcher, bald so etwas wie ein Sohn – und wartet geduldig auf die Gelegenheit zum Mord. Die Figuren sind gestellt, die Tragödie kann ihren unruhigen Lauf nehmen. Aber statt sich, wie man erwartet, zuzuspitzen, fasert die Handlung nun aus, die Beziehungen werden komplizierter, die Handlungen fragwürdiger, kurze Wege werden lang, und enge Räume dehnen sich aus.

Jede neue Situation, in der sich Amsterdam bewährt, vertieft die eigenartige Vater/Sohn-Beziehung. Schließlich rettet Amsterdam Bill sogar vor der Kugel eines bürgerlichen Attentäters im Theater. Will er damit nur sicherstellen, dass er seine eigene Rache vollziehen kann, oder handelt er hier wie ein Sohn, der instinktiv den Vater schützt? So wie er am Beginn den Vater nicht schützen konnte, und als könnte er mit dieser Tat das Trauma der Untätigkeit und des Verlustes in der ersten Schlacht wiedergutmachen? Er scheint es selbst nicht zu wissen. 

Bills Königreich ist aber nicht nur von innen und außen bedroht, sondern auch durch seinen Herrscher selbst. Wenn wir sehen, wie Bill mit seinen Messern spielt, immer nahe daran, sich zu verletzen, dann sehen wir auch, wie er mit seinem Königreich spielt, das aufgebaut ist auf der Angst, die er und seine Leute verbreiten, und auf der Angst, die ihn selber schüttelt. Er ist so wenig ein Monster wie Amsterdam ein strahlender Held. Es ist der intimste Moment des Films, in dem Bill Amsterdam zugleich sein eigenes wie das Wesen seiner Herrschaft erklärt. Bill the Butchers Rede von der Angst ist Summe (für Scorseses Arbeit) und Prophetie (für die amerikanische Geschichte durch Vietnam bis zum Wüstenkrieg und so weiter auf den Mars, wo der Angst-Western künftig spielen wird). 

Noch bleibt die Rachegeschichte eher durch Suspense und eine Liebesgeschichte retardiert als durch eine Veränderung der Perspektiven. Denn seine Beziehung zu Jenny Everdeane (Cameron Diaz) kompliziert Amsterdams Mission noch. Eine Beziehung, die tief in die Scorseseschen Sexual- und Familien-Mythen führt, und doch nicht zu tief, dass wir nicht auch ein Modell der sexuellen Ökonomie einer terroristischen Herrschaft erkennen könnten. Jenny (der bekennende Brecht-Leser Scorsese wird sich auch bei diesem Namen etwas gedacht haben) führt selber eine Gang von Diebinnen. Sie bereichert sich nicht, um ihr Regime zu stärken, sie träumt davon, diese Hölle zu verlassen; sie will in den Westen (ein direkter Verweis auf die nächsten Kapitel in der amerikanischen Geschichte). Und sie ist die einzige, die sich um die Grenzen von Five Points nicht schert und ihre Diebeszüge in die Wohngegenden der Reichen ausdehnt.

Bis dahin ist der Film vielleicht eine Splatter-Version einer Dickens-Phantasie. Aber Bill the Butcher wächst über diese Form der sozialen Groteske hinaus. Näher an einer Verkörperung des Teufels war noch kein Scorsese-Charakter; er ist nicht nur Täter, sondern auch ein Philosoph des Bösen. Er ist ein Schlächter und zugleich ein Künstler. 

Eine Brechtsche Parabel von der Herrschaft, eine Shakespearsche Tragödie und ein Dickensscher Blick auf Elendstypologien, die Illustration einer verdrängten Episode der Geschichte mit überdeutlichen Bezügen zur Gegenwart (merkwürdig, wie wenig die amerikanische Kritik davon sehen will) und schließlich: ein „Western auf dem Mars“. Das ist schon eine Menge an möglichen Lesarten für eine Filmgeschichte, die noch nicht einmal eine halbe Stunde alt ist.  

Amsterdam folgt Jenny in die Straßen der Reichen, eine radikal andere Welt. Ein perfektes Mischbild aus Analyse und Biographie: „Die meisten Einwanderer“, erinnert sich Scorsese an seine Kindheit, „vegetierten am Rande des Existenzminimums, wenige Straßen weiter aber präsentierte sich unvorstellbarer Luxus und Reichtum. Diese Gesellschaft, das begriff ich, war geteilt in zwei Klassen.“ Sie war es vordem, und sie ist es immer noch. 

Die erwähnte Szene, in der Bill Amsterdam seine Angst gesteht, zeigt ihn, in eine amerikanische Fahne gehüllt, neben dem Bett sitzend, in dem sich Amsterdam und Jenny gerade zum ersten Mal geliebt haben. Wir haben ein System des Films verstanden: Die einzelnen „Zellen“ der Handlung erscheinen als Schlüssel zu den anderen, aber die Räume, die sie jeweils öffnen – Tragödie, Geschichte, Psychoanalyse undsoweiter – , führen immer wieder nur zu anderen, und am Ende dieses Films ist man hinausgestoßen in eine mythen- und also trostlose Welt der zynischen Faktizität der Macht. „Gangs of New York“ ist nicht nur ein Film, den man unterschiedlich „lesen“ kann, sondern jede Sequenz enthält eine eigene Leseanleitung. Am Ende erkennt man vielleicht, dass man keiner hat trauen dürfen. Aber dann ist es zu spät. 

Amsterdam ist, mit einem ebenso grimmigen wie offenen Gesicht, eine Art unbeschriebenes Blatt, ein leeres Zentrum, das sich mit jeder Aktion füllt. Ein Oliver Twist, der von seiner toughen Jenny seine Lektionen erhält, noch mehr aber vom Objekt seines Hasses, Bill the Butcher. Der bringt ihm an einem toten Schwein bei, die richtigen Messerstiche zu setzen, um einen Gegner auf angemessene Weise zu töten. Fleisch ist das zentrale Bild, blutiges Fleisch. 

Jenny, die selbstbestimmte Frau, ist schnell von Amsterdam abhängig geworden. Das „ödipale“ Dreieck, das sie damit geöffnet hat, ist tödlich genug. Bill the Butcher kann wohl ihre relative Freiheit akzeptieren, nicht aber den anderen Mann. Die Vollendung dieser bizarren Familie, ihr Augenblick der Wahrheit, ist zugleich auch Ausgangspunkt des Zerfalls. Amsterdam wartet auf den Augenblick der Rache, Jenny will fort von hier, und Bill sehnt sich nach dem Ende der Angst. Scorsese zeigt diese Situation sehr einfach: Man sucht die Nähe des anderen, aber man sieht ihn nicht. 

In einer wundervollen Inversion ist es Amsterdam, der in jenem Theater, auf dessen Bühne zuvor der „Befreier“ Lincoln parodiert worden ist, seine Rache an Bill vollenden will. Der Mythos des Präsidentenmordes bekommt eine andere Lesart. Aber da hat Bill the Butcher längst von Amsterdams wahrer Identität erfahren und nimmt sich sein Opfer mit den Schlachtermessern vor. 

Und doch kann er den Verräter Amsterdam nicht töten. Vielleicht braucht das terroristische System die Neuauflage des Kampfes. Amsterdam, halbtot, wird in den Katakomben wieder gesund gepflegt und zum Führer der sich neu formierenden Dead Rabbits, der Iren gegen die Natives. Die große Schlacht, mit der alles begann, muss noch einmal stattfinden, als ihre Revision, als das Ritornell des Rituals, das die terroristische Herrschaft der Angst benötigt. Haben wir über der Tragödie die Geschichte vergessen, über dem Eros die Materialität der Gewalt, über der Herrschaft der Angst die Herrschaft des Geldes? Nachträglich wird uns bewusst, dass Scorsese uns immer wieder darauf hingewiesen hat, wie wenig Five Points „die Welt“ ist, und wer da hinein regiert und manipuliert. Aber Fleisch und Blut, Begierde und Angst haben uns eben abgelenkt. 

Die scheinbar so klar gezogenen Grenzen zwischen dem Elend und der Gewalt in den Slums und dem Reichtum und der Sicherheit in Uptown New York brechen im Sommer 1863 zusammen. In New York kommt es zu einer vier Tage andauernden blutigen Revolte gegen die Privilegierung der Reichen, die schließlich durch massiven Militäreinsatz und den Beschuss des Viertels beendet wird. Die Einwohner von Five Points waren weit davon entfernt, sich für Lincolns Krieg einzusetzen. Der nächste rassistische Schub richtete sich vielmehr gegen die afroamerikanischen Sklaven, deren Befreiung dieser Krieg vorgeblich diente. Unter dem amerikanischen Bürgerkrieg liegen viele amerikanische Bürgerkriege. 

Und kein Scorsese-Film hat so genau auf die Mechanik des Klassenkampfes geachtet: „Gangs of New York“ ist eine Tragödie der Ohnmächtigen und eine Farce der Macht. Die Kanonenschüsse, mit denen am Ende einer Welt der Garaus gemacht wird, die sich ganz buchstäblich aus dem Schmutz der Straßen, den Erinnerungen und den Leidenschaften gebildet hat, diese Kanonenschüsse sind in ihrer Wirkung vollkommen absurd gegenüber dem Geschehen, das sie zerstören. Nach den vielen Blutbädern, Morden und Intrigen reguliert die herrschende Klasse die Verhältnisse in einer vollkommen anderen „Sprache“. So blicken Amsterdam und Bill, im Schlamm vereint in ihrem letzten Kampf, auf den mannigfachen Tod, der von oben kommt, auf die Reihen der Soldaten, die ihr Massaker anrichten, ohne dass sich jemand wehren kann, auf eine Gewalt, die sie, die geborenen und verdammten Gewalttäter, nicht verstehen. 

Wie die meisten der großen Filme Scorseses erzählt auch dieser zunächst eine überaus einfache Geschichte, deren Bedeutung sich erst in den Bildern offenbart. Diese Geschichte ist sich ihrer Herkunft aus den verschiedensten Traditionen des Erzählens so bewusst, dass sie sie beständig offenbart: die Beziehung zur Shakespearetragödie, zum amerikanischen Nationalepos, zum Western, zum Melodrama. Aber jeder dieser Hinweise ist auch trügerisch und verweist eher auf Brüche als auf funktionierende Traditionen. „Gangs of New York“ ist auch ein großer Film übers Film-Erzählen. 

Zweifellos spielt neben Tragödie, Farce, Parabel, Zeitbild und Psychodrama das Element der Verführung, die Faszination, die von dem „Faschisten“ Bill the Butcher ausgeht, eine entscheidende Rolle. Sie aktualisiert auch eine Debatte um unser filmisches Empfinden: Ist ein Film über einen Rassisten nicht automatisch ein rassistischer Film? Einige Kritiker werfen dem Regisseur diese Faszination vor, andere phantasieren sich das zynische Ende zu einer Erlösung um (so als wollte der Film zeigen, was Amerika überwunden habe, und nicht das, was in ihm wirkt). Scorsese setzt seine Methoden der Verfremdungen hintergründiger ein als gewohnt, und man mag darüber spekulieren, wie sehr dies eine absichtliche Provokation ist oder dem Umstand geschuldet, dass der Regisseur beim Kampf um den Endschnitt mit Miramax nicht jede Runde gewonnen hat. Verzichten wir auf eine Teilnahme an dem in den USA gepflegten Ratespiel, wie sehr wohl der Produzent Harvey Weinstein, ohne den ein Film wie dieser nicht auf den Markt gekommen wäre, ein Bill the Butcher und Martin Scorsese ein Amsterdam Vallon der Filmproduktion ist.

Georg Seeßlen

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 02/2003

 

Gangs of New York

USA / Deutschland / Großbritannien / Italien / Niederlande 2002 – Regie: Martin Scorsese – Darsteller: Leonardo DiCaprio, Daniel Day-Lewis, Cameron Diaz, Liam Neeson, Jim Broadbent, Brendan Gleeson – Prädikat: wertvoll – FSK: ab 16 – Länge: 166 min. – Start: 20.2.2003