Offensichtlich gibt es (nicht nur) im französischen Kino ein neues Bewusstsein für die Provinzen, für die Provinz, für das Provinzielle. Hier, im grauen, regnerischen, verbauten und trostlosen Teil der Normandie ist niemand willkommen bei den Sch’tis. Der Feelgood-Effekt einer provinziellen Heilung will sich lange nicht einstellen. Hier haben komische Kultur- und Sprachkonflikte nichts zu suchen, und hier ist auch keine Idylle zu erhoffen. Willkommen in der Realität. Trotzdem schaut auch dieser Debüt-Film voller Zärtlichkeit auf eine Region, die die Regisseurin offensichtlich gut kennt. Angèle ist, auf eine schlecht gelaunte Art, verschlampt. Sie ist nur auf Bewährung draußen; es gab da einen Unfall, etwas vom kriminellen Heimkind haftet ihr an. Schneller Sex, Fahrräder klauen, eine schlechte Beziehung zu ihrem kleinen Sohn; sogar vor einer kleinen Begegnung mit ihm reißt sie aus. Ihre schwarze Lederjacke ist so etwas wie ein Panzer. Ständig sieht sie um sich, als würde sie verfolgt oder lauere auf eine Chance.
Tony ist Fischer, und das ist ein harter Job und hat wohl keine große Zukunft. Er ist stämmig und unbeholfen. »Le Norvegien« heißt sein Schiff, und auch er könnte in seiner Art nicht »nördlicher« sein. Er sieht vor sich hin, geradeaus; jeder Blick in die Welt scheint ihn schon zu gefährden. Im Gegensatz zu seinem Bruder – »Kein Job, viele Ideen« – möchte er den Vater, der vor einem halben Jahr ertrunken ist, auf dem Meeresgrund ruhen lassen.
Angèle braucht einen Ehemann und ein vorzeigbares Leben, sonst kriegt sie ihren Sohn nicht wieder; die Schwiegereltern haben bereits das Sorgerecht beantragt. Er heißt Yohan, wie der Held der norwegischen Kinderbucher über den nomadischen Jungen. Angèle und Tony lernen sich über eine Kontaktanzeige kennen. Die ersten Begegnungen verlaufen alles andere als glücklich, und auch die weitere Entwicklung dieser Beziehung verspricht nicht gerade viel. Als Fischverkäuferin macht Angèle erst einmal keine so gute Figur, und das inmitten der angespannten Situation, wo die Fischer in ihrem Überlebenskampf mit der Polizei aneinander geraten und der Fang immer dürftiger wird. Aber auch ihr eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen und eine Beziehung zum Sohn aufzubauen, scheint fast unmöglich.
Es ist eine Geschichte der langsamen Annäherungen. In einem Film der langen Blicke. Es geht also, wie man so sagt, um eine Beziehung »verletzter Seelen«. Eine Liebesgeschichte, wie sie das Kino gern erzählt, weil sie so offen ist, dass man vieles andere auch erzählen kann. Von Familien, von Gesellschaften, von Verhältnissen, von Arbeit. Und von einer Landschaft, die so wunderschön sein könnte. Wenn man nur einen Blick dafür haben könnte, wenn nicht alles nur Kampf ums Überleben wäre. Angèle entwickelt diesen Blick, langsam, auf ihren schwankenden Fahrradtouren. Und auch hier geht es um eine Geschichte zwischen dem Süden und dem Norden, und auch hier soll die Provinz am Ende, endlich, Heimat werden.
Vielleicht ist manches in diesem Film immer noch ein kleines bisschen zu sehr »geschrieben« und »gespielt«. Das nächtliche Meer, die Erosionsschäden an der Hauswand, sogar die kümmerlichen Blumen am Fenster müssen immer etwas sagen. Nichts ist so schwierig im Film, als Leichtigkeit und Genauigkeit miteinander zu verbinden. Aber »Angèle und Tony« kommt, von der Genauigkeit her, ein gutes Stück voran. Märchenhaft, ein wenig, muss es natürlich auch sein. Sonst bräuchten wir ja nicht ins Kino gehen. Um Leuten zuzusehen, die direkt vom Standesamt in den Schlick gehen. Krabben sammeln, Wind spüren. Glücklich sein. All das Zeug.
Note 2-
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.strandgut.de
Angèle und Tony
Frankreich 2010 – Originaltitel: Angèle et Tony – Regie: Alix Delaporte – Darsteller: Clotilde Hesme, Grégory Gadebois, Evelyne Didi, Jérôme Huguet, Antoine Couleau, Lola Dueñas, Patrick Descamps, Patrick Ligardes – FSK: ab 6 – Länge: 87 min. – Start: 4.8.2011
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