Dies ist eine Geschichte aus einer Welt, in die man nicht gerne hineinschaut, wenn man dort nicht lebt, und wenn man dort lebt, muss man nicht mehr wissen, wie es da zugeht, sondern man will wenigstens im Traum daraus entkommen. Dort passieren die selben Geschichten wie überall sonst. Nur ganz anders.
Hier wirst du früh ziemlich taff, wie die siebzehnjährige Sascha, die gegenüber vom Scherbenpark wohnt, dem heruntergekommenen Park mit der Kinderschaukel inmitten der Hochhaussiedlung, mit ihrem kleinen Bruder und einer Tante. Sie sind die Kinder russischer Spätaussiedler, die hier in den Hochhaussiedlungen unter sich geblieben sind. Sascha hätte das Zeug, aus dem Ghetto herauszukommen, sie spricht als eine der wenigen hier perfektes Deutsch, und sie ist gut in der Schule. Aber da ist etwas passiert in der Enge der Familie, was selbst jemanden wie sie aus der Lebensbahn wirft. Sascha hat zwei Träume: Ein Buch über die tote Mutter schreiben, die nie auf ihre kluge Tochter hören wollte, und den Stiefvater töten, der sie auf dem Gewissen hat. Einer der beiden Träume wird in Erfüllung gehen, der andere nicht.
Nachdem die Zeitung einen schleimigen Artikel über Vadim E., den inhaftierten Mörder der Mutter, veröffentlicht hat, der da als reuiger Sünder und gar verkappter Künstler stilisiert wird, stürmt Sascha in die Redaktion. Dort trifft sie auf den Redakteur Trebur, der erstaunlicherweise mehr Anteilnahme zeigt, als sie erwartete, und weil die Tante gerade heiraten will, nimmt sie das Angebot an, bei ihm und seinem Sohn Felix unterzuschlüpfen. Zwei Welten begegnen sich da, nebenbei muss Sascha ihre Jungfräulichkeit loswerden, und auch ein ökologisches Passivhaus hat groteske Züge. Aber Sascha hat immer noch ihre beiden Träume.
Am Ende wird Sascha nach Prag reisen. Dorthin, wohin sich die Mutter immer gesehnt hat. Weit weg vom Scherbenpark und weit weg vom ökologischen Passivhaus.
Eine einfache Geschichte, nach dem Debütroman von Alina Bronsky aus dem Jahr 2008, die die Welt, von der da erzählt wird, sehr genau kennt. Bettina Blümner ist mit dem dokumentarischen „Prinzessinnenbad“ bekannt geworden, und beides, die dokumentarische Nüchternheit und die empathische Nähe zu den Charakteren, wirkt wie eine direkte Fortsetzung im Spielfilm-Genre. Dem entspricht das präzise, verhaltene Spiel der drei Hauptdarsteller, Jasna Fritzi Bauer, Ulrich Nöthen und Max Hegewald. Es ist ein Film über Orte und über Menschen, und darüber, was das eine mit dem anderen macht. Der Film hat ein paar der extremen Sprünge zwischen den Welten (die „Hochbegabte“ auf der katholischen Eliteschule) mit Bedacht ausgelassen, die im Buch eine Rolle spielen. Nicht dass diese unrealistisch wären, doch hier geht es darum, einer Parallelwelt näher zu kommen, die sich nicht spektakulär gegen die deutsche Mainstream-Gesellschaft absetzt, sondern ihre Lebensfeindlichkeit nur in den Details offenbart. Man muss also genauer hinschauen, und weniger auf die Tricks von Dramaturgie und Identifikation vertrauen, die wir aus üblichen „Problemfilmen“ oder „Milieustudien“ kennen; man muss der Sprache nachspüren, man muss ein gewisses Faible für das Graue und Ausgebleichte haben, man sollte, wenn möglich, keine Vergleiche mit amerikanischen Street Movies ziehen. Dann überträgt sich beim Sehen etwas von der widerständigen Kraft der Hauptfigur. Fremd in beiden Welten kann Sascha nur einen sehr eigenen Weg suchen. Dass das am Ende mehr dem Traum als der Wirklichkeit zu entsprechen scheint, sei ihr gegönnt angesichts von zwei Welten, in denen schon das Überleben als Mensch ein kleines Wunder ist.
Georg Seeßlen
Bild: © Neue Visionen
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