Das fängt nicht gut an, mit dem Blick auf eine Frau, die vor dem Kreuz eine Unkeuschheit beichtet und sich dafür selber auspeitscht. Da ist alles Unheil im Glauben schon da und das Paradies verloren. Oder? Und der Blicke wendet sich nicht, vielmehr sehen wir das in drei längeren Einstellungen. Die Drei ist die Zahl dieses Films. „Danke Jesus, Danke“, so beendet die Frau ihre Exerzitien. Wo sind wir da? In einer ganz persönlichen Hölle? Die Dunkelheit könnte darauf schließen lassen. In einer besonders bizarren Form von sexueller Sublimation? Die Inbrunst des Aktes und die Nacktheit der Frau mag darauf hinweisen. In religiösem Wahn? Jedenfalls in einem Ulrich Seidl-Film. Dem zweiten der Trilogie über Glaube, Liebe und Hoffnung. Über das, was statt des Paradieses jenseits der weiblichen Gefängnisse liegt. Die Welt, nichts als die Welt, wie wir sie kennen. Aber nicht sehen wollen.
Anna Maria – Maria Hofstätter, die wir aus „Hundstage“ und „Import Export“ kennen, und die durch eine Nebenrolle auch eine Beziehung zu „Paradies:Liebe“ herstellt – ist nicht nur von ganzem Herzen, sondern vielleicht mehr noch von ganzem Körper katholisch. Sie rutscht auf Knien durchs Haus, das wie ein Labyrinth von Kruzifixen keinen Weg nach draußen weiß, sie trägt die Muttergottes von Haus zu Haus, um allen Menschen, vor allem den Ungläubigen aus der Fremde, das Licht des Paradieses zu weisen; das Gebet ist ihr Leben, begleitet sie noch beim Treppensteigen, und auch im Bett hat sie Jesus dabei, will ihn ganz direkt in sich spüren. Sie will ihre Welt katholisch machen, vielleicht wäre das der einzige Weg nicht mehr in solch disparaten Welten und Gefängnissen leben zu müssen. Im Krankenhaus bei der Arbeit, diesem Hort des Elends und der Angst, in ihrer ganz eigenen Körperkirche, und in einer Umgebung, die ratlos auf die seltsamen Heiligen reagiert. Und dann kommt auch noch ihr Ehemann zurück.
Nabel, der Muslim – dargestellt von Nabel Saleh, der kein ausgebildeter Schauspieler ist und sich improvisierend in die Situation einfühlt – der nach langen Jahren in seiner ägyptischen Heimat im Rollstuhl in die Wohnung zieht, weil er ja als Mann das Recht dazu hat, und weil umgekehrt seine katholische Ehefrau kein Recht auf eine Trennung hat…
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Georg Seeßlen: Filmkritiken 2010 – 2013
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Mit Leidenschaft für den Film und mit Liebe zum Kino
52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.
Bilder: © Neue Visionen
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