Über das Prinzip der wilden Freiheit und das der angemaßten Autorität und Ordnung
Was ist ein Paul Thomas Anderson-Film? Es ist, pathetisch gesprochen, eine lange Reise ins dunkle Herz Amerikas, eine Chronik dessen, was alles verloren geht, während sich die mythischen Erfolgs- und Gründungsgeschichten abspielen. Oder es ist eine Frage nach dem Funktionieren des Kapitalismus zwischen Showbusiness, Bigotterie und Größenwahn. Und noch tiefer: Wie verrückt sich Freiheit und Unterdrückung zueinander verhalten, Anarchie und Ausbeutung oder Begehren und Verlust. Andersons Filme sind philosophische Essays. Aber solche, die nach Schweiß, Blut, Öl, Kohl, Schnaps und Sperma stinken. Technisch gesprochen ist es vielleicht das Epos der Intimität. Oder die verzweifelte Begegnung von Enge und Weite. Kammerspiele in Breitwand. Verdichtung und Leerung. Von Orson Welles über Stanley Kubrick und Martin Scorsese geht die Linie: Filme erschaffen einen eigenen Raum, jenseits dessen, was sich Architekten oder Psychologen darunter vorstellen können. Philosophische Essays? Historische Detailaufnahmen? Gewiss. Aber auch reines Kino, Gesichter, Dinge, Licht, Töne, Bewegungen. Vergiss mal die Frage nach den Bedeutungen, und genieß diese blutige, komische, melancholische und rebellische Poesie.
Wie der Film zuvor, „There Will Be Blood“, ist „The Master“ eine Geschichte um zwei Männer, die so gegensätzlich sind, dass sie sich anziehen müssen, ein bisschen familiär, ein bisschen sexuell vielleicht, vor allem aber wie Seelen, die im anderen genau das sehen, was einem selbst fehlt. Und es sind zugleich Prinzipien, Archetypen, Ideen; so wie sich in „There Will Be Blood“ Kapitalismus und Religion begegneten, die zwei Wirkkräfte in der amerikanischen Geschichte, so begegnen sich in „The Master“ das Prinzip der wilden Freiheit und das der angemaßten Autorität und Ordnung.
Joaquin Phoenix spielt den jungen Drifter Freddie Quell, der aus dem Weltkrieg zurück kommt und nicht mehr nach Hause findet, wenn es je eines gegeben hat. Er versteht die Kunst, aus merkwürdigen Zutaten alkoholische Getränke zu brauen, die einen Mann töten können. Auf der Flucht gerät er auf ein Schiff, und dort residiert Lancaster Dodd, gespielt von Anderson-Regular Philip Seymour Hoffman, Begründer und Zentrum einer sonderbaren Glaubensgemeinschaft namens „The Cause“, in der man durch gewisse Psychopraktiken daran arbeitet, Leiden aus früheren Leben zu beseitigen. Freddie Quell, das ist unter anderem ein fernes Echo auf die Lebensgeschichte und das Werk von John Steinbeck, und Lancaster Dodd ist ein Schatten von L. Ron Hubbard, dem Begründer von Scientology. Mehr innere als äußere Verwandtschaften. Freddie erhofft sich von Lancaster erst einmal eine Überfahrt, und das ist schon so symbolisch wie das visuelle Leitmotiv des Films, der Blick in die Heckwelle des Schiffes. Aber dann trinken die beiden Freddies Schnaps zusammen, und Dodd holt aus dem traumatisierten Mann Bruchstücke seiner Biographie, er gibt ihm Halt, und natürlich nutzt er ihn aus. Freddie ist das Muster, an dem Dodd seine Methode, eine willkürliche Mischung aus Psychoanalyse, Verhaltenstraining, Folter und Gehirnwäsche, erprobt. Aber Freddie ist auch frei und klug genug, Manipulation und Heuchelei immer wieder zu durchschauen. Die Verletzungen häufen sich. Am Ende sind die beiden aneinander gescheitert, ihnen bleibt nur die Aussicht auf ein nächstes Leben. In ihm werden sie sich als Feinde gegenüberstehen.
Wir erfahren in diesem Film über die Protagonisten nicht mehr als sie von sich preisgeben, das ist widersprüchlich, manchmal gelogen, vor allem lückenhaft. Und gerade weil ihre Figuren nicht zu Ende erklärt sind, können die beiden Hauptdarsteller eine solche Intensität auf der Leinwand entwickeln. Die Kamera bleibt immer dicht bei ihnen, registriert das Zögern wie die Leere, den verzweifelten Gewaltausbruch wie das Aufleuchten des Triumphs. Phoenix und Hoffman spielen zwei Männer, die sich selber nicht verstehen, die bohren und suchen, in sich und im anderen, und keine Melodie in der Musik von Radiohead Jonny Greenwood, die sie auch nur für den Augenblick in die Nähe der Erlösung brächte wie es Aimee Manns „Save Me“ in „Magnolia“ getan hat.
Jemand sucht etwas und findet etwas ganz anderes. Jemand baut sich etwas auf, und bemerkt zu spät, dass es das eigene Gefängnis ist. Jemand verbindet sein Leben mit dem eines anderen, der nur sein Erzfeind sein kann. Jemand will sich befreien und zappelt im Netz. Davon handeln die Filme von P. T. Anderson. Vom Leben eben, das sich nie so einfach erklären lässt, wie wir es gerne hätten. Bei „The Master“ bleibt selbst für Anderson-Verhältnisse vieles offen. Vielleicht kommt die Erklärung ja im nächsten Leben. Oder wenigstens im nächsten Film.
Georg Seeßlen, Strandgut
Bilder: Senator Film
The Master Regie und Drehbuch: Paul Thomas Anderson (USA 2012)
mit Joaquin Phoenix, Philip Seymour Hoffman, Amy Adams, Laura Dern, Evan Welch, Patty McCormack
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