Vielleicht hilft gelegentlich ein Blick von außen. Denn das deutsche Kino hat sich, wie es scheint, bei der Darstellung von Nationalsozialismus und Krieg ziemlich hoffnungslos verrannt in eine Dualität von beschaulich-graulichem Innenleben, Familie, Biographie und Psychologie, und einer äußeren Hülle von Fahnen, Uniformen, Aufmärschen und Choreographie, so als wäre man immer noch ein wenig verliebt in den Todes-Glamour der Nazis. Nichts davon in „Lore“.
Der Film, den die australische Regisseurin Cate Shortland nach einem Buch von Rachel Seiffert drehte, bleibt konstant ganz nahe an der Hauptfigur, der 14-jährigen Lore, die am Ende des Krieges drei gewaltige Aufgaben zu erledigen hat: Das schiere Überleben für sie und ihre Geschwister, im Chaos zwischen letztem, unsinnigen Kampf und Besatzung, zwischen Hunger, Kälte und Gewalt; erwachsen werden, einschließlich der Erfahrungen mit dem Tod, mit der Verantwortung und mit der Sexualität; und sich lösen von dem furchtbaren Welt- und Menschenbild, das sie von ihren Eltern übernommen hat. Kaum zu sagen, welches von den dreien das Schwerste ist.
Deutschland, kurz vor der Stunde null. Im Frühjahr 1945 macht sich die Familie eines SS-Offiziers auf die Flucht. Nachdem man das belastende Material zu verbrennen versucht hat, und der Hund erschossen wurde, kleines Echo sehr viel größerer Schuld, verschwindet der Vater. Erste Station: Ein Bauernhof, ein Abenteuer für die Zwillinge, niemand kann Lore das „Heil Hitler“ und den Glauben an den „Endsieg“ nehmen, ein großes Schweigen hat da schon begonnen, über den verbrannten Führer-Fotografien und der Nachricht von Hitlers Tod. Dann muss auch die Mutter fort, ins Lager, ins Gefängnis oder in den Tod. Der Bauer jagt die unnützen Esser vom Hof. Mit der Lüge, dass die Mutter bei der Großmutter warte, bringt Lore die Geschwister dazu, sich auf die beschwerliche Reise zu machen. Brandruinen, die Hinterlassenschaft von Flüchtenden, die Leiche einer Frau. Dann trifft sie zum ersten Mal auf Opfer, auf die Bilder von den KZs; eine erste Begegnung mit amerikanischen Besatzungssoldaten; dort wird Thomas zum Retter, der es mit seinen Papieren schafft, dass sie mitgenommen werden, da er sich als ihr Bruder ausgibt. 900 Kilometer durch das Deutschland in Trümmern, das gerade unter den Alliierten in Besatzungszonen aufgeteilt wird. Blankes Entsetzen, wenige Augenblicke der Hoffnung…
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52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.
Lore, von Cate Shortland (England/ Australien/ Deutschland 2012)
Bilder: Piffl
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