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Warum Dokumentarfilme wichtiger denn je sind

Es ist ja kaum erstaunlich, dass in den letzten Jahren die Nachfrage nach „politischen Filmen“ im allgemeinen und nach dokumentarischen Filmen im besonderen gestiegen ist. Einerseits, weil man sich in ausgesprochen unübersichtlichen Verhältnissen wähnen darf, in denen es gerade die politische Klasse ist, die sich der Entpolitisierung der Diskurse widmet (sie produzieren nicht nur in Wahlkampfzeiten ein Infotainment, das wie geschaffen scheint, Ideologie in „unpolitischer“ Form zu verbreiten). Andererseits weil das Misstrauen gegenüber dem konkurrierenden Bild-Medium, dem Fernsehen, erheblich gewachsen ist. Der Film wird als das seriösere, wenn auch anstrengendere Medium wieder entdeckt; dem Dokumentarfilmer und der Dokumentarfilmerin wird mehr Verantwortung zugebilligt als audiovisuellen Nachrichtenschleudern. Das macht übrigens auch eine Akzeptanz von Leuten wie Michael Moore und Filmen wie „Supersize Me“ oder „Borat“ aus, die ja alle mit einigermaßen fragwürdigen Mitteln arbeiten: Ihre Autoren setzen sich aus, sie stellen sich den Authentizitätsfallen und den Gefahren der provozierten Realität. Sie erfinden das Politische nicht als asketische, genaue und „transzendentale“ Alternative zum allfälligen Medienrauschen, sondern wollen es aus genau diesem entwickeln; sie akzeptieren ihre Rolle als Clowns. (Was Michael Moore anbelangt, so hat er dabei offensichtlich den Bogen so weit überspannt, dass die Feuilleton-Riegen beinahe geschlossen von der Begeisterung zum Moore-Bashing überlaufen.)

Aber tiefer und nachhaltiger als solche Filme, deren Authentizität in der Person des Filmemachers liegen, wirken solche, die den langen Atem, die Geduld, die Genauigkeit aufbringen, um zeitlich und räumlich getrennte Dinge zueinander zu bringen, um über Generationen und über Kontinente hinweg Zusammenhänge von Politik, Ökonomie und Kultur verfolgen. Reisen mit offenen Augen. Filme, die nicht etwas zeigen wollen, sondern uns sehen lassen. Filme, die für die Filmemacher selber Unternehmungen mit offenem Ausgang sind.

Das „echte“ Dokumentarische im Film versucht sich manchmal gar radikal von Infotainment und von der „Häppchenkultur“ des medialen Alltags abzusetzen, man könnte fast sagen, es setzte gegen die Kultur der TV-Feature eine Art von visueller Weisheit: Es sollte Tiefe sein, wo Oberflächlichkeit herrscht, es sollte Zeit sein, lange Beobachtung, lange Einstellung, wo Hektik und Effekt herrscht, es sollte Reflexion sein, wo Besinnungslosigkeit herrscht, es sollten Autoren sein, wo Mechanismen herrschten, es sollte ein demokratisches Sehen sein, wo populistisches Zeigen herrscht. Doch der Preis für diese humanistische Reife des dokumentarischen Sehens ist hoch und manchmal zu hoch: Es setzt nämlich die Bereitschaft der Zuschauer voraus, sich an der Arbeit des Sehens und Verstehens aktiv zu beteiligen. In einem guten dokumentarischen Film kann man es sich eben einfach nicht bequem machen.

Der neuere Dokumentarfilm, so viel ist auch den unterschiedlichsten Beispielen jenseits des angewandten Moorismus gemeinsam, hütet sich vor nichts so sehr wie vor einer Bevormundung des Zuschauers, er ist vorsichtig bei allem, was als Belehrung und Propaganda erscheint, er lässt lieber zu viel weg als zu viel Bild-Rhetorik zu entwickeln. Propaganda nämlich ist auch da schlecht, wo es um eine „gute Sache“ geht, auch für den Kampf gegen Klimakatastrophen und für bedrohte Völker ist die Entmündigung der Zuschauer nicht das richtige Mittel. Mit anderen Worten: Gute Dokumentarfilme müssen nicht nur sehr genau über die eigene Position nachdenken (zum Beispiel: Filme mit Menschen machen, und nicht Filme über Menschen), sie müssen manchmal auch sehr asketisch sein. Ein guter Dokumentarfilm hat zwar auch eine Dramaturgie (kein Mensch glaubt an eine naive Erbeutung von „objektiver Wirklichkeit“, jeder Dokumentarfilm ist eine „Erzählung“), aber diese Dramaturgie ist kein Trick, sondern entstammt der Auseinandersetzung mit dem Material. Am nächsten plot point könnte es passieren, dass genau das Bild, das du dir gerade gemacht hast und mit dem es gerade so schön gemütlich wurde, von einem anderen Bild widerlegt wird. Um mit so etwas immer noch und erst recht das Publikum zu fesseln, muss man schon ein Künstler sein. Nicht nur deswegen ist es auffällig, wie viele Spielfilm-Regisseure sich in letzter Zeit (wieder) dem Dokumentarischen widmen, und umgekehrt kann erst durch die Renaissance des Dokumentarischen im Kino und auf DVD ein so brillanter Film-Essayist wie Harun Farocki eine Aufmerksamkeit bei Zuschauern und Kritik erzielen, um die ihn mancher Spielfilm-Regisseur beneiden dürfte.

Die Geste des Dokumentarischen

Im Kino verhielten sich das Dokumentarische und das Fiktive schon immer sehr prekär zueinander, denn eine Filmkamera behandelt eine echte und eine gespielte Geste so gleich wie ein echtes und ein nachgemachtes Objekt. Zum Problem wurde das aber erst ein paar Jahrzehnte nach der Erfindung des Mediums. Für den Anfang verhielt es sich wohl so einfach, wie es das rororo-Filmlexikon erklärt: „Die frühesten Filme waren Dokumente alltäglicher Begebenheiten, aber der Reiz der Neuheit verbrauchte sich schnell, und sehr bald schon traten dramatische Erzählungen an die Stelle des gefilmten Alltags.“ Das heißt: Im Dokumentarischen kommt das Kino eigentlich wieder zu seinen Wurzeln zurück. Und im Zentrum von durchaus visionären Filmen mancher Spielfilmregisseure, von John Ford bis Andrej Tarkovskij meinethalben, gibt es immer wieder auch den dokumentarischen Blick.

Natürlich ist das auch eine Frage von Technik, Macht und Moral. Der Film muss sich (ob er will oder nicht) der von der Kamera selbst nicht zu beantwortenden Frage stellen, ob in der Welt eine Ordnung steckt oder nicht. Die Frage nach Inszenierung und Dokument interferiert also mit der Frage nach Ordnung und Zufall. Deshalb stammen die schönsten Dokumentarfilme von Menschen, die einen Wunsch haben, die hässlichsten von Menschen, die eine Überzeugung haben, und die aufrichtigsten von Menschen, die sich der Welt mit nichts als Geschmack, Neugier und Methode nähern.

Dokumentarfilme sind Instrumente, sich der Welt zu nähern, statt sie sich vom Hals zu halten. Schon deswegen gibt es derzeit kaum etwas wichtigeres als gute Dokumentarfilme.


Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in DVD-FILMSPIEGEL sequence, Oktober 2009