Heftige Bilder, Falsche Fährten
„Antichrist“ ist unter anderem ein Märchen
Zugegeben: Die Nahaufnahme einer vaginalen Selbstverstümmelung mit einer Schere gehört nicht zu den cineastischen Augenblicken, wegen derer ich meinen Beruf immer noch liebe. Aber im Universum des dänischen Regisseurs Lars von Trier musste man ihr früher oder später wohl begegnen; es ist vielleicht sogar das finstere Zentrum dieses Universums. Wahrscheinlich weniger als Ausdruck einer gewöhnlichen „Misogynie“ des Autors, die man auf dem Grund all seiner Phantasien von den leidenden Frauen diagnostiziert hat, sondern, schlimmer, als furchtbarer Protest gegen das Leben als Geborenwerden (und Sterben), gegen den Widerspruch in diesem Geschlecht, das zugleich Vereinigung und Trennung bedeutet. In welcher Geschichte der Welt und der Menschen auch immer. Deshalb haben dieses und andere Bilder aus dem Film „Antichrist“ nur wenig mit „Provokation“ zu tun. Vielleicht aber doch damit, dass Lars von Trier den Besuchern seines Universums gibt, was sie erwarten. Ein bisschen heftiger vielleicht, vor allem aber viel, viel tückischer.
Lars von Trier hat seine „perfekten“ Filme schon vor vielen Jahren abgeliefert. Sie waren formvollendet und begegneten der großen Störung mit Poesie. Danach schien es ihm vor allem um Reduktionen, Obstruktionen, Fragmentierungen und Zerstörungen zu gehen. Der Ehrgeiz des Regisseurs schien vor allem darin zu bestehen, Filme zu machen, die eigentlich gar nicht funktionieren können, und die dann auf wundersame Weise doch funktionieren. Filme, zum Beispiel, die auf Kreidestrichen statt in locations spielten. Wir argumentierten, wenn er es zu weit trieb, mit einem besonderen Humor des Filmemachers. Eine noch einigermaßen sanfte Verbindung von Komik und Grauen erprobte er in seiner Fernsehserie „Hospital der Geister“ um ein Krankenhaus, das nicht zufällig „Königreich“ heißt. Das Märchen ist eine Referenz; man kann es stets auf zwei Weisen lesen, als Geschichte von der Ablösung und als Geschichte der Rückkehr zum Beginn alles Grauens. „Antichrist“ ist unter anderem ein Märchen.
Nun also mag es darum gehen, eine große Krankheit zu beschreiben. Nicht die Krankheit von Menschen, von Kulturen, Gesellschaften, Geschichte, sondern die Krankheit der Schöpfung selber. Das ist nicht nur anti-religiös sondern auch anti-rational, anti-psychologisch und sogar anti-dramatisch. Es beleidigt, anders gesagt, jeden Bewohner eines Sinn-Systems.
Um eine große, meinetwegen; die große Krankheit zu beschreiben, ist es nicht notwendig, selber krank zu sein. Aber es hilft ungemein. Lars von Trier ist ein bekennender Kranker, er spricht offen und offensichtlich gern von seinen Zwangsvorstellungen und von einem Kopf, in dem das Filtern, Ordnen und Zensieren nicht recht gelingen will. Das Drehbuchschreiben und Filmemachen ist für ihn die Paradoxie einer Ordnung des Ungeordneten. Therapie im allgemeinen und bei „Antichrist“ ganz besonders ist es ohnehin. Man kann den Film also als Antwort auf eine lebensbedrohliche Depression ansehen. Gewonnen ist damit gar nichts.
Der Film beginnt mit einer ersten Umkehrung der Schöpfung: Mit dem Geschlechtsverkehr von IHR (Charlotte Gainsbourg) und IHM (Willem Dafoe) und parallel dem Tod ihres Kindes, das unbeaufsichtigt auf einen Tisch geklettert und aus dem offenen Fenster gefallen ist. Ein schrecklicher Unfall, einerseits, aber da ist, in diesem so schön gefilmten Sterben, auch eine Gleichung vom fallenden Engel. Wie könnte es größere Schuld geben? Zumal sich winzigste Anzeichen zeigen, dass das alles doch kein reiner, böser Zufall war. SIE leidet unter etwas, das die Ärzte eine Anomalie in der Trauer nennen, und ER – ein Therapeut, der gegen den ersten Grundsatz seiner Profession verstößt, keine Angehörigen zu behandeln – will IHRER Verzweiflung begegnen durch eine Rückkehr an den Ort, der SIE am tiefsten ängstigt. (Es ist, nebenbei, dieser Film, auch zugleich Hommage an Bergman und Destruktion seines Werkes: Unter tausend anderen Dingen ist „Antichrist“ auch eine Horrorkomödie als Antwort auf „Szenen einer Ehe“.)
Im großen Wald liegt eine Hütte namens Eden; dort hat SIE eine Zeit im letzten Sommer mit dem Jungen verbracht und an ihrer Dissertation zum Thema „Gynozid“ gearbeitet. Überall scheint die Natur – „die Kirche Satans“ – ihre boshafte Gewalt zu zeigen, in kahlen Bäumen, im Bach unter der Brücke, in der Fuchshöhle, im konstanten Regen der reifen Eicheln auf das Hüttendach. SIE scheint hier wieder zu sich zu kommen, unter anderem in der Sexualität, und ER scheint parallel dazu die Kontrolle über die Wahrnehmung zu verlieren. Würde SIE ihren Frieden mit der Natur machen, während er ihrem Bösen anheim fällt? Der radikale Bruch jedenfalls vollzieht sich, als SIE IHM sagt, SIE sei „geheilt“.
Da waren, auf dem Tisch, der dem Kind zum Verhängnis wurde, die Figuren von „drei Bettlern“. Sie kehren nun wieder, der sprechende Fuchs, das gebärende Reh, der unsterbliche Rabe. Und aus Zorn, weil ER SIE verlassen wolle oder weil ER IHR Geheimnis entdeckt hat (in den verborgenen Bildern von der Gewalt gegen Frauen, in den Fotografien des Kindes, dem die Schuhe verkehrt angezogen wurden?) greift SIE IHN an, zerstört erst SEIN Geschlecht und befestigt dann, blutig und direkt, einen Mühlstein an SEINEM Bein. Sterben soll ER, wenn die drei Bettler gekommen sind, sterben aber wird SIE, während ER fassungslos zusieht, wie eine endlose Schar von Pilgern den Wald hinan steigt.
Alles was Lars von Trier über diesen Film zu sagen weiß ist, dass er ihn machen musste. Ansonsten sah er sich zum Beispiel außerstande, seinen Schauspielern mitzuteilen, worum es eigentlich geht (Charlotte Gainsbourg nahm sich ihrerseits einen Coach, um mit einem zugleich unbarmherzigen und abwesenden Regisseur arbeiten zu können). Zur Gestaltung des Konflikts zwischen IHR und IHM fielen ihm Strindberg ein und natürlich Dreyer, überdies die Analogie von Kunst und Verrücktheit als ein Sehen von Dingen, die man als „Normaler“ nicht sieht. Schließlich ist die „kognitive Therapie“, die ER in „Antichrist“ anwendet, eben jene, mit der Lars von Trier zu lernen versucht, mit seinen Phobien zu leben. Aber was sagt das alles schon?
Es ist ein vollkommen offenes Unterfangen, ein Film ganz ohne Vorsicht. Das Schöne, das Obskure, das Kranke, das Komische, sogar das Gestohlene kommen ohne Filter, so widersprüchlich wie gleichzeitig gewaltig komponiert. Man kann „dummes Zeug“ sagen und sich abwenden, man kann sich dem süßen Gift der Interpretation ergeben (und da gibt es die herrlichsten Fallen, Labyrinthe und Endlos-Schleifen; was wäre, nur zum Beispiel, wenn SIE und ER einfach Gott wären?), oder sich auf Kunst als schöne Form des Wahns einlassen. Anthony Dod Mantle hat diesen Film so schön fotografiert wie es noch kein Trier-Film zuvor war. Man wird Händel anders hören nach diesem Film. Und der Wald, in dem SIE behauptet, die Frau sei an sich böse, ist unmissverständlich deutsch. Der Trick ist vielleicht einfach der: Filme zu ver- und zerstören genügt Lars von Trier nicht mehr. Er verführt jetzt den Zuschauer, dieses Werk selber fortzusetzen. In Lars von Triers Zauberwald gibt es nur heftige Bilder und falsche Fährten.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 09-2009
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