Schmerzhafte Familienforschung: Malte Ludins Doku über seinen Vater
Wenn man in der Nachkriegszeit aufwuchs, in der ersten, zweiten, dritten Generation im Täterland nach Auschwitz, wurde die Familie oft zu einem sonderbaren Ort des Aufhebens der faschistischen Vergangenheit. Da gab es Bekenntnisse der Schuld und schiere Lüge, Umdeutungen und Übertünchungen, es gab einen Mythenschein um die Überlebenden und mehr noch die Toten aus den Reihen der Täter. Und nicht selten baute sich ein Familienroman auf einer solchen Lebens- und Geschichtslüge auf. Spätestens jetzt, wo uns der Faschismus als Unterhaltung und Faszinosum, als Metapher und Geschichte serviert wird, wo ein frivoles Spiel mit „Tabuverletzungen“ gespielt wird und die Erinnerung an die Techniken und die Milieus der Verdrängung und Bearbeitung in den Familien der Nachkriegsgesellschaft verschwindet, wo endlich aus Verdrängung Gleichgültigkeit zu werden droht, ist es wohl angeraten, sich einer Prüfung wie diesem Film von Malte Ludin zu unterziehen, auch wenn es schmerzt, auch wenn keine Sicherheit hinter Kunst und historisierendem Dokument zu finden ist.Die Leerstelle der Schuld, die es in Ludins Familie zu füllen und zu bearbeiten galt, ist freilich nicht ein beliebiger Mitläufer. Hanns Elard Ludin war ein hundertprozentiger Nationalsozialist und SA-Führer, ein ehrgeiziger und skrupelloser Funktionär des Hitler-Staates, der als Bevollmächtigter Minister des „Großdeutschen Reiches“ für Verfolgung und Mord verantwortlich war und am 9. Dezember 1947 in Bratislava als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde. Und da ist dieser andere Hanns Elard Ludin, ein family man und Lebenskünstler, an dem sich alle Mitglieder der Familie ausrichten, einer, den man sich lachend, jovial und zugewandt vorstellen muss, und an den alle auch die glücklichen Erinnerungen binden.
Der Filmemacher ist der jüngste Sohn, der den Vater kaum gekannt hat, der aber in all dem, was nicht ausgesprochen werden darf, in all seiner biografischen Abwesenheit zu einem imaginären Bezugs- und Mittelpunkt geworden ist. Und nun macht sich dieser Film daran, diese Geschichte zu erhellen. Durch Gespräche zwischen den Familienmitgliedern, durch Sichten der Dokumente, durch Zitate aus der Vergangenheit, durch äußere und innere Reisen. Das Verdrängte wird dabei im Wesen der Verdrängung deutlich, nicht nur in bestimmten Personen wie der ältesten Schwester, die das Andenken an den Vater auf besonders heftige Weise verteidigt und dabei auf besonders heftige Weise auch von den Mechanismen dieser erfundenen Erinnerung preisgibt. Es ist erschreckend, wie da immer wieder jene wunden Punkte berührt werden, an denen etwa eine verzweifelte Vaterliebe umkippen kann in eine fatale Nähe zur Täter-Ideologie, wo man, wie die Beteiligten, nicht recht weiß, ob man abbrechen oder weitermachen möchte. Malte Ludin überträgt diese Widersprüchlichkeit der Recherche direkt auf den Zuschauer. Seine Kamera ist ein Subjekt dieser Recherche, die keine didaktische Distanz kennt, aber sehr genau die Annäherung und ihre Grenzen wiedergibt. Auch die Begegnung mit den Opfern seines Vaters, zweifellos eines der Schlüsselelemente des Films, verläuft nicht nach den formalisierten Riten; Erkenntnis und Versöhnung sind so einfach nicht zu sortieren.
Wenn man den Film mehrfach ansieht, dann werden auch noch kleinere Spuren dieser Recherche augenfällig, dann bekommen Bilder im Hintergrund, das Stocken bei manchen Sätzen, der Raum und die Bewegung selber ihre Bedeutung. Das Netz der Ästhetik der Aufhebung wird dichter. Und dann bemerkt man natürlich auch, wie viel „Film“ Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß enthält, wie viel ästhetische Reflexion und Bearbeitung. Es ist ein psychohistorisches Experiment, so existenziell wie exemplarisch, aber es ist auch ein Film, das heißt es geht auch um Kunst. Am Ende steht Malte Ludin allein am Grab seines Vaters. Beschreibt diese Einstellung das Scheitern eines familiären Aufklärungs- und Versöhnungsprojektes? Oder ist es der Abschluss eines filmischen Poems? Vielleicht muss man beides zusammendenken, um zu erkennen, dass dieser Film möglicherweise ein neues Kapitel in der Geschichte von Film und Faschismus darstellt. Ein Subjekte-Film, ein Film nicht über die Menschen und ihre Vergangenheit, sondern ein Film mit den Menschen und mit der Vergangenheit. Und in sofern paradoxerweise auch ein Film in die Zukunft hinein. Die vierte Generation hat keine Zeugen mehr; sie ist den Faschismus-Bildern der Medien und den Ritualen der offiziellen Kultur ausgeliefert, sie soll, sagt man, „andere Sorgen haben“. Aber sie wird die erste Generation im Land der Täter sein, die sich aus der emotionalen Gewalt des postfaschistischen Familienromans lösen kann. Und Filme wie dieser werden dabei eine wichtige Rolle spielen.
Malte Ludin dokumentiert die Suche nach seinem Vater, einem ehrgeizigen Nazi-Funktionär und Lebenskünstler. Ein neuer Umgang mit der Tätergeneration.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in epd film
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