1962 schuf Chris Marker den 29minütigen Film LA JETÈE (in Deutschland AM RANDE DES ROLLFELDS betitelt), in dem er am ehesten so etwas wie einer „Erzählung“ nahe kommt. Es ist die Geschichte einer Erinnerung. Ein Bild ist Ausgangspunkt des Geschehens: eine Frau an einem Sonntagnachmittag am Flughafen, neben ihr wird ein Mann erschossen, einige Zeit vor dem Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Dieses Bild hat sich so unauslöschlich in den Geist eines jungen Mannes eingebrannt, daß die Wissenschaftler ihn für ein Experiment benutzen: Wie schon andere Gefangene aus den Katakomben von Paris, wohin die Überlebenden des großen Krieges sich vor der verseuchten Oberwelt zurückgezogen haben, soll er mittels Drogen auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt werden. Ein Mensch „mit starken mentalen Bildern“ aus der Vergangenheit sei, so meint man, am ehesten in der Lage, sich in einer vergangenen Zeit zurechtzufinden und von dort Medikamente zu holen. Tatsächlich kommt der Mann auch in die Vorkriegszeit zurück und findet die Frau aus seinem Bild. Er verliebt sich in sie und weigert sich, in die Zukunft zurückzukehren, und so wird er von einem ihm „nachreisenden“ Wissenschaftler verfolgt und auf dem Flughafen erschossen: Er selbst ist der Mann, der neben der Frau im Bild war.
Chris Marker hat diese Geschichte in Standfotos als „Fotoroman“ – begleitet von einer Off-Narration, Musik und Geräuschen – gestaltet. Aber nicht wegen dieser ungewöhnlichen, strengen Form hat der Film seinerzeit so viel Begeisterung bei den Cineasten wie Verärgerung bei den Genre-Liebhabern ausgelöst. Er richtete sich gegen die positivistischen Grundlagen der Science-Fiction selbst, ihre mythische Konstruktion von Fortschritt und Apokalypse. Von einem Hollywood-Film, der sich als „inspiriert von LA JETÈE“ ausweist, reichlich budgetiert und prominent besetzt ist, könnte man also erwarten, das Übliche zu unternehmen, das mainstreaming of an art movie. Aber TWELVE MONKEYS wurde von David und Janet Peoples geschrieben und von Terry Gilliam inszeniert.
Auch in Gilliams Film werden wir zunächst mit eher quälenden, scheinbar unzusammenhängenden Eindrücken konfrontiert, ein Alptraum vollständiger Unbehaustheit in einer zerstückelten Story wird vermittelt. Wir sehen einen Menschen, der beständig taumelt zwischen Zuständen vollkommener Eingeschlossenheit und vollkommenen Ausgeliefertseins. An die Stelle der kalten Distanz bei Marker freilich ist eine hitzige Pein, eine Art endloses Fallen von einer Folter in die andere, getreten. Wir studieren nicht mehr fragmentierte Dokumente einer absurden Reise, wir sind selbst in ihr begriffen.
Die Weltkriegskatastrophe ist, zeitgemäß, von der Beinahe-Ausrottung der Menschheit durch ein Virus abgelöst, das 1996 auf mysteriöse Weise auftauchte. 40 Jahre später lebt der Rest der Menschheit unter der Erde, tief unter dem, was von Philadelphia übrig geblieben ist, in der „ewigen Nacht“. Ein reichlich gewalttätiges Regime sperrt alle Renitenten in enge Käfige; sie werden als „Freiwillige“ an die Oberfläche geschickt, um dort Experimente durchzuführen; nur die Tiere scheinen dort oben überlebt zu haben. Cole, ein Gefangener in den Kastenkäfigen von „Eternal Night“, wird in die Vergangenheit zurückgeschickt (anders als bei LA JETÉE wird das nicht durch Drogen, sondern maschinell bewerkstelligt, nach wie vor aber ist „Erinnerung“ ein bedeutendes Medium dafür), er soll das Geheimnis des Virus CZT lösen, um für kommende Generationen eine Rückkehr auf die Erdoberfläche zu ermöglichen. Doch im Jahr 1996 werden Coles Warnungen als Halluzinationen eines Psychotikers empfunden, und er findet sich in einer Nervenheilanstalt wieder. Hier macht er die Bekanntschaft eines gestörten jungen Mannes, Jeffrey Goines, der einer seltsamen „Animal Rights“-Gruppe, der „Twelve Monkeys“-Armee, angehört und mit seinem Vater im Streit liegt, einem angesehenen Virologen, der Tiere für seine Experimente missbraucht.
Für kurze Zeit wird Cole in die Zukunft zurückgeholt, kann die Wissenschaftler aber überzeugen, dass sie ihn noch einmal zurückschicken. Plötzlich findet er sich im Ersten Weltkrieg wieder, kommt dann aber erneut ins Jahr 1996 – wo er die Psychiaterin Dr. Railly entführt, die ganz allmählich beginnt, seinen Erzählungen zu glauben. Es ist das Wissen, und es sind die Bilder, die sie überzeugen. Vielleicht ist es aber auch nichts anderes als die Liebe, die die Wahnsysteme miteinander verknüpft.
Der große Unterschied zu Markers Film ist zunächst, daß wir das Geschehen nicht aus der Distanz erleben, sondern sozusagen durch Coles Augen und mit seinen Zweifeln daran, ob nun er selbst „verrückt“ ist oder die Welt. Daher ist die Erzählung auch und vor allem physisch, das einzig Verläßliche ist der Körper, der Schmerz, das Blut. Es ist, wie die Drehbuchautorin Peoples meint, ein „physischer anstatt mentaler, aber ein subjektiver Film“.
Cole ist ein essentieller Gilliam-Held; wie die Protagonisten von BRAZIL, THE ADVENTURES OF BARON MÜNCHHAUSEN oder THE FISHER KING lebt auch er am Rande zwischen der Wahrnehmung einer äußeren Welt und einem inneren Kosmos. Gilliams Helden wissen genauso wenig wie die Zuschauer, wo die Grenzen zu ziehen sind. Sie versuchen, in ihrer Phantasiewelt und in der äußeren Realität zugleich zu leben, und anders als, sagen wir bei den Spielberg- und Disney-Helden, misslingt dabei die Selbststeuerung. TWELVE MONKEYS ist also zugleich die Revision der Chris-Marker-Phantasie von der Produktion der Bilder und die tragische Revision des Gilliamschen Bildersturms, die hier ganz buchstäblich zum Tode führt.
Der erste Teil des Films ist in seiner Konsequenz ungemein beeindruckend. Man hat, seit NAKED vielleicht, keinen Menschen auf der Leinwand so unbehaust, so verlassen gesehen wie diesen Cole, der sich nicht einmal in der Zeit festmachen kann. Mit dem kahlgeschorenen Schädel, immer neuen Wunden und Blessuren, schwitzend, sabbernd und keuchend ist Bruce Willis der aufs Kreatürliche reduzierte Mensch, der nach einem Ausweg in einem Wahrnehmungschaos, nach einer Selbst-Identifikation sucht. Es gibt nicht nur die Möglichkeit, dass alles „wahr“ ist, was er erlebt, oder alles nur Halluzination, es sind auch tausenderlei Zwischenformen möglich. Den Umkehrpunkt erreicht der Film just in dem Augenblick, als Cole, um endlich an einem Ort, in einer Zeit und bei einem Menschen bleiben zu können, so gerne akzeptieren möchte, dass er „nur“ krank ist. Die Gewalt, mit der er den Streetgangstern und dem Zuhälter begegnet, lassen auch bei uns immer wieder den Zweifel aufkommen, ob er vielleicht doch ein gefährlicher Kranker ist. Dann beginnt der Film damit, sich, uns und seine Protagonisten davon überzeugen zu wollen, dass Cole tatsächlich erlebt hat, was er sieht.
Die Story versucht nun, die Bilder zu ordnen. Aber jetzt erweist es sich als geschickter Schachzug, dass der Film von Anbeginn klar gemacht hat, dass man keine rescue story erwarten darf. Man kann nicht verhindern, was schon geschehen ist, heißt es einmal, und der einzige Erfolg von Coles Mission kann darin liegen, für zukünftige Generationen eine Hoffnung zu eröffnen. Und weil eine Rettung von Anbeginn an nicht zu erhoffen ist, kommt dem Film auch ein eher fatalistischer, beinahe todessüchtiger Ton zu. So bleiben die Personen und ihre Wahrnehmungen auch in der nun strafferen Erzählung im Vordergrund; ja, der Umstand, daß die Frage nach Coles Wahnsinn sich (scheinbar) gelöst hat, ändert nichts mehr daran, dass das Chaos nicht mehr zu bändigen sein wird.
Der Film zeigt unentwegt Menschen, die ihren Glauben verlieren, den Glauben an die Wirklichkeit, den Glauben an ihre Mission, den Glauben, wie Dr. Railly in einer Szene sagt, an die Psychologie als „neue Religion“. „Glauben“ „ können dagegen nur noch die wahrhaft Verrückten, Jeffrey Goines und seine „Army of the Twelve Monkeys“ etwa, die die Tiere des Zoos befreien. Obwohl sie nicht die eigentlichen schuldigen der historischen Katastrophe sind, wie wir mit Cole lange argwöhnen, erfüllen sie doch die Prophezeiung, die den Film durchzieht, nämlich, dass die Erde wieder den Tieren gehören wird.
Die eigentliche Tragik des Helden ist nicht sein Pendeln zwischen Wahn und Wirklichkeit, sondern der Umstand, daß er nirgendwo wirklich hingehört. Daß er am Ende all das getan und erlitten hat, nur um das in seinem Bewußtsein längst eingebrannte Bild noch einmal zu inszenieren, macht auch die Deutung möglich, das ganze Geschehen sei so etwas wie eine Todesfantasie in der Art von JACOBS’S LADDER, den die beiden Peoples wohl nicht zufällig in einem Interview zu TWELVE MONKEYS als einen ihrer Lieblingsfilme bezeichnet haben. Und natürlich führen die Spuren auch zurück zu Philip K. Dick, dem Autor von „Do Androids Dream of Electric Sheep?“, der literarischen Quelle für den Film BLADE RUNNER, an dessen Script Peoples mitarbeiteten, und in dessen Arbeiten immer wieder die Frage nach der Wirklichkeit und ihrer Imitation gestellt wird. Am Ende legt der Film sogar noch einmal einen Perspektivwechsel nahe. In dem Bild war neben der Frau und dem ermordeten Mann auch ein kleiner Junge zu sehen, ein Zeuge des Geschehens mit großen fragenden Augen. Dr. Railly lächelt, noch im Schmerz über den Tod des Geliebten, als sie in sein Gesicht sieht. Vielleicht ist es auch seine Geschichte, die hier erzählt wurde, vielleicht gibt es noch eine ganz andere Zeitschleife.
„Wie bizarr TWELVE MONKEYS auch sein mag, ich hoffe, es ist eine angemessene Reflexion unserer Wirklichkeit“, sagt Gilliam. Das ist sehr listig gesagt: Als wäre die Wirklichkeit realistisch nur noch im Zustand ihres Verschwindens wiederzugeben.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in epd film 3/96
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