„Ich kämpfe um jedes Detail.“   Michael Mann

Michael Mann ist zweifellos einer von denen, die man einen „tough guy“ nennen darf. Einer, der sehr genau weiß, was er will, und der das auch durchsetzen kann. Und noch mehr einer, der eine Niederlage wegstecken kann. Nicht, dass man ihm die Niederlagen nicht ansehen würde. Oder genauer gesagt: seinen Filmen. Ich behaupte: Filme wie die von Michael Mann kann nur einer machen, der schon ein paar Niederlagen eingesteckt hat.

Geboren und aufgewachsen ist er in einer Gegend von Chicago, wo man sehr viel leichter zum Gangster als zum Studenten der englischen Literatur wird. Michael Mann ist immer diese seltsame Liebe zur Härte und Klarheit der Straße geblieben. Er sieht seine Straßen mit Shakespeare, und Shakespeare liest er mit dem Straßen-Blick. An der University of Wisconsin belegte er eher nebenbei Kurse zur Filmgeschichte, und irgendwann war ihm klar, dass er Filmregisseur werden wollte. So ging Michael Mann 1966 an die Filmschule von London, machte seine ersten Filme, darunter einer Dokumentation über die Studentenunruhen im Paris des Mai 68, gewann für den Kurzfilm „Juanpuri“ einen Preis beim Festival in Cannes und war bei alledem unglücklich mit der europäischen Langsamkeit und Wehleidigkeit. An die amerikanische Westküste zurückgekehrt dauerte es drei Jahre, bis Michael Mann endlich richtig im Business Fuß fassen konnte. Er arbeitete als „Assistant Story Editor“ bei der TV-Serie „Starsky and Hutch“, schrieb Scripts für „Police Story“ und schließlich für einen Pilotfilm zu einer weiteren Serie, die später „Vega$“ genannt wurde. Damals entwickelte Michael Mann eine Methode, seine Figuren nach realen Leuten zu entwickeln, die er zuvor interviewte und eine Zeit lang begleitete, wie etwa den schmierigen Privatdetektiv für diese Serie. In allen seinen Leinwandfiguren steckt ein wirklicher Mensch, dem Michael Mann einmal begegnet ist und der ihn fasziniert hat. Die Produzenten machten aus dieser schmerzhaft lebensnahen Detektiv-Figur dann aber den üblichen Serienhelden: Niederlage Nummer 1.

Michael Mann reagierte auf sie, indem er nun kategorisch darauf bestand, bei seinen Scripts selber Regie zu führen. Daraus wurde „The Jericho Mile“, ein „kleiner“ TV-Film über einen lebenslänglichen Häftling, der seine ganze Lebenskraft auf das Laufen konzentriert und schließlich sogar für eine Teilnahme an der Olympiade trainieren soll. Der Film wurde nicht nur im Folsom Prison gedreht, sondern Mann hatte auch hier wieder eine sorgfältige Recherche über reale Typen in seine Arbeit einfließen lassen und setzte Häftlinge in Nebenrollen ein: 600 Insassen, davon 32 in „Sprechrollen“ traten auf. Im Kern stecken in den meisten Filmen von Michael Mann, mag man sie dann auch „stilisiert“ nennen, Dokumentarfilme (was für einen Kameramann-Regisseur wie ihn auch einen technischen Aspekt hat). Noch im Herzen von „Heat“ steckt die wahre Geschichte eines Polizisten, mit dem Michael Mann befreundet war: Er hatte tatsächlich mit einem Gangster zusammen einen Kaffee getrunken, den er wenige Zeit später bei einer Schießerei tötete, und auch diesen beiden Männern war klar, dass einer von ihnen beiden bei der Konfrontation sterben musste.

„Jericho Mile“, im März 1979 bei ABC gesendet, war ein grandioser Türöffner. Jetzt konnte Michael Mann unter mehreren Angeboten wählen und schloss schließlich mit United Artists einen Vertrag. Es entstand für das Kino „Thief“/“Violent Streets“ (Der Einzelgänger), mit einer ganz ähnlichen dokumentarischen Arbeitsweise und mit ganz ähnlichem casting „realer“ Typen aus dem Ghetto. „Thief“ wurde insbesondere in Europa bewundert als Wiedergeburt des existentialistischen Gangsterfilms.

„Miami Vice“

Es brauchte eine weitere Niederlage, um Michael Mann erst einmal wieder zum Fernsehen zurück zu bringen. Sie entstand durch ein in der Tat ausgesprochen bizarres Projekt namens „The Keep“, eine phantastische Geschichte um Nazi-Soldaten die einen uralten Dämonen befreien. Nur die Nerds von der Fraktion „Irrwitzigste Crossover im Horrorfilm“ halten die Fahne dieses Films hoch. Es gibt allerdings, bei aller Absurdität des Projekts, ein paar Bilder in diesem Film, die kaum einer, der ihn gesehen hat, so schnell vergisst. Nur hat ihn eben kaum jemand gesehen. Und die Kritiker versuchten sich gegenseitig an Häme zu überbieten. [ad#michimann1]So nahm Michael Mann dann doch ganz gern das Angebot an, bei der Entwicklung einer neuen Krimiserie entscheidende visuelle und narrative Impulse zu geben. „Miami Vice“, die coolste Serie der achtziger Jahre, verdankt im übrigen seinen eigenen visuellen Touch einem Besuch von Michael Mann in einem Farbengeschäft. Dort kombinierte er, weil er gerade nichts anderes zu tun hatte, auf den üblichen Farbtafeln diverse Pastelltöne. Der Rest ist nicht nur Fernseh-, sondern auch Modegeschichte.

Als ausführender Produzent gab Michael Mann der Serie seinen unverwechselbaren Stil. Aber nachdem sie einmal in Gang gesetzt war, begann er sich auch schon wieder zu langweilen. Schon vor der Zeit von „Miami Vice“ hatte er mit dem Drehbuch zu „Manhunter“ begonnen, nach dem ersten Roman von Thomas Harris, und nun nahm er sich ein Jahr Auszeit vom Serienjob. Und was dabei heraus kam, war die nächste Niederlage. Vielleicht weil ihn an der Vorlage nicht so sehr das Monströse, nicht die Figur von Hannibal Lecter, dem Menschenfresser, interessierte, sondern die Figur des Cop, der so tief in den Abgrund geschaut hat, dass der Abgrund zurück schaut. Unnütz zu sagen, dass auch dieser Profiler-Cop, gespielt von William Petersen, auf die Begegnung mit echten Leuten dieser Profession zurück geht.

Der erste große Michael Mann-Film scheint nur auf den ersten Blick so gar nicht zu seinen bisherigen Filmen und seiner Arbeitsweise und seinem untrüglichen Gespür für das Leben im Asphaltdschungel zu passen. Der Pre-Western „The Last of the Mohicans“ (Der letzte Mohikaner) nach James Fenimore Cooper, eine düstere Variante des amerikanischen Gründungsmythos. Mann begegnete diesem Mythos allerdings mit der ganzen illusionslosen Härte seiner Straßenfilme. „Der letzte Mohikaner“ ist bewusst oder unbewusst der Auftakt zu einer Reihe von Filmen, in denen Michael Mann eine Chronik seines Landes entwirft. Auch hier sind die indianischen Rollen auch indianisch besetzt mit Russell Means (ein führender Aktivist der AIM), Eric Schweig und Wes Studi. Eben deswegen ist der Film meilenweit von Indianer-Romantik à la „Der mit dem Wolf tanzt“ entfernt. Das Gebet der „Entschuldigung“ gegenüber dem erlegten Tier, das die Indianer am Anfang sprechen, ist ethnologischer Beleg für eine andere Beziehung zur Natur genug; dann aber tut Mann das seine, den Indianern ihre „Wildheit“ zurück zu geben. Es ist die historische Begründung der drei Elementarkräfte in Michael Manns Filmen: Die imperiale, „geordnete“ Gewalt der englischen und französischen Kolonialisten, die barbarische und chaotische Gewalt der Indianer und die individualistische, subjektive Gewalt der Pioniere und ersten „Amerikaner“. All das scheint in immer neuen Formen und immer neuen Beziehungen in seinen nächsten Filmen wieder auf, wo Cops und Robbers, Sport und politischer Untergrund, Konzernmacht und Medien, die einzelnen und die Systeme aufeinander prallen.

Und alle diese Filme sind sich ihrer „Größe“ durchaus bewusst. Es sind, kann man wohl sagen, amerikanische Tragödien: „Der letzte Mohikaner“ ist vermutlich die radikalste Relektüre der Cooperschen Romane mit Leslie A. Fiedler: Amerika ist womöglich schon im Jahr 1757 unwiderbringlich verloren gegangen. Und alles andere, alles auch in Michael Manns Filmen, spielt bereits in nachapokalyptischer Zeit. Sie handeln von Menschen, die in einer Welt agieren, in denen ihre Vorstellungen von Loyalität nicht gelten, wo der einzelne, der Pionier in eigener Sache, hoffnungslos verloren sein muss zwischen der strukturellen Gewalt und der barbarischen Gewalt. Deswegen wandeln sie wie Erlöser und Gespenster ihren Weg zu Ende. Jeder Film von Michael Mann beschreibt einen Triumph des einzelnen, kurz vor seiner vermutlich endgültigen Niederlage.

Auch seine Großstadtfilme, „Heat“, „Colateral“ oder „Insider“ handeln nicht nur vom Leben auf der Straße, wie es der Regisseur und der Autor und wohl auch der Mensch Michael Mann liebt, sondern sind auch Operationen am Herz des Landes. Die Stadt bei Michael Mann ist nicht die Stadt des film noir und nicht die des neo noir, [ad#michimann2]obschon man seine Bilder dort immer wieder, ihrer offensichtlichen Hopper-Bezüge wegen, verortet. Er zeigt eine Stadt wie sie ist: Gewaltige Büro-Architekturen aus Beton, Stahl und Glas, Industriebrachen, Vergnügungszentren, direkt nebeneinander: Leere und Überfülle, Erektion und Zerfall. Auch hier, bei aller Bildmächtigkeit und manchmal –verliebtheit, verzichtet er nicht auf den dokumentarischen Blick. Es ist keine Stadt der Träume, keine der Alpträume. So wie die Bewegungen in Michael Manns Filmen in der Regel nur um Spuren verlangsamt oder beschleunigt sind, so sind die Kulissen nur durch die Einstellungen, nicht durch Zusätze verändert. Es bleibt Platz für den Zufall, den Widerschein des Wirklichen.

Unter anderem beobachtet Michael Mann, wie sich Amerika von seiner WASP-Dominanz befreit, wie es lateinamerikanisch, afroamerikanisch, asiatisch wird. Wenn sich in „Der letzte Mohikaner“ die Menschen verhalten wie rastlos Getriebene im Großstadtdschungel, dann verhalten sich die Protagonisten in Filmen wie „Heat“ umgekehrt wie Jäger und Fallensteller im L.A. der Gegenwart. Fremde sind sie geblieben, die sich gleichwohl mit geschärften Sinnen bewegen. Detective Hanna nimmt Spuren auf wie der Wildtöter. Beinahe hätte es des Hinweises in „Colateral“ nicht bedurft, und doch ist es ein Szene von eigener, knapper Poesie, als die unfreiwilligen Partner mitten in der Großstadtnacht auf einen einsamen, streunenden Wolf stoßen und beide für einen kurzen Augenblick davon so fasziniert sind, dass sie beinahe einmal ihre wahnhafte Mission vergessen. Einen ähnlichen Augenblick gibt es in „Ali“, wo ein Schmetterling als Tierbild den Helden bestimmt. Der Wolf in der Stadt, der Schmetterling, der einerseits den Kampfstil des Helden beschreibt und andrerseits jener sein mag, dessen Flügelschlag auf der anderen Seite der Erde ein Beben auslösen kann.

Gewalt

Die Gewalt ist ein Element, das Michael Mann nach dem Geschmack mancher zu viel, zu heftig und zu schön einsetzt. „Heat“ endet in einer der längsten Schießereien der Filmgeschichte, „The Last of the Mohicans“ musste bei der deutschen Fernsehausstrahlung um mehr als eine viertel Stunde gekürzt werden, um prime time-tauglich zu sein. Aber es ist nicht diese „grafische Gewalt“, die die Filme so hart erscheinen lassen, sondern es ist die Gewalt in den Figuren: Was geht in Magua vor, der das Herz seines Feindes „Grauhaar“ aus dem Leib reißen und essen will? Es ist das fast schon kosmische Maß dieses Hasses, was uns schauern macht: Zu verstehen nur, weil Magua hasst angesichts des sicheren Untergangs. Wie kann, in „Heat“, ein Mann, der seine kleine Tochter über alles liebt, dann ein anderes Mädchen als Geisel und menschliches Schutzschild nehmen? Wie kann Tom Cruise in „Colateral“ das Töten wie ein Geschäft betreiben und dabei so erschreckend „vernünftige“ Gedanken äußern?

Der Punkt an dem Manns Antagonisten scheitern ist nicht der Sieg der Moral, der Vernunft oder des Schicksals. sondern der Augenblick, an dem sie aufhören, professionell zu handeln. McCauley in „Heat“, weil er sich verliebt hat, Tom Cruise in „Collateral“, weil er seinen Chauffeur zu mögen beginnt, Wes Studi in „The Last of the Mohicans“, weil er für einen Augenblick seinen Feind achtet. Was die Figuren bei Michael Mann des weiteren auszeichnet ist die Unmöglichkeit einer Umkehr. Robert de Niro in „Heat“ weiß, dass er eher sterben wird als noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Der Undercover Cops in „Miami Vice“ müssen ihre Rollen als Rauschgifttransporteure, die sie einmal angenommen haben, bis zum Ende durchhalten. Der Killer in „Collateral“ muss alle seine Opfer auf der Liste erledigen, es darf nicht einer (oder eine) fehlen. Und dann schließlich geht es immer um eine absurde Beziehung von Planung und Chaos. Auch Muhammad Ali wird in Michael Manns Film nicht zuletzt als genialer Taktiker vorgestellt; er siegt, weil er den Kampf in gewisser Weise schon im Kopf hat. Und er verliert, als die Systeme in seinem Kopf beginnen, chaotisch aufeinander zu reagieren. Das sind die zwei Seiten des Schmetterlings.

Dabei verwundert nicht das Empfinden Michael Manns für das Nächtliche. Die Nacht, ausdrücklich von Manns Protagonisten immer wieder als „schön“ bezeichnet, schließt einen Teil der Banalität bereits aus. Und es erklärt, bis zu einem gewissen Grad, wie wichtig die Breitwand für die großen Filme von Michael Mann sind. Nicht nur, weil seine Protagonisten immer wie manisch getrieben laufen müssen, sondern auch, weil ihnen der Raum als einziger Ausweg bleibt. Die Gewalt löst sich bei ihm nicht in lustvoller Zerstörung auf. Wenn wie in „Heat“ ein Fahrer eines Autos von Kugeln durchschossen ist, und das Auto gegen eine Wand fährt, dann lässt es Michael Mann nicht leinwandfüllend explodieren, es wird vielmehr immer langsamer und stoppt mit einem letzen hilflosen Rumpler an der Wand. Das ist ein viel grausameres Todesbild. In „Manhunter“ sehen wir nicht den Tat, sondern den Tatort mit seinen entsetzlichen Blutspuren. In „The Last of the Mohicans“ zeigt Magua triumphierend das Herz, das er „Grauhaar“ aus dem lebendigen Leib geschnitten hat; die Gewalt ist suggestiv, sie macht den Zuschauer zum Mitverantwortlichen, sie ist immer mehr Anfang als Ende der Katastrophe.

Varianten einer einzigen Geschichte

Michael Mann erzählt Geschichten, die allesamt nur Varianten einer einzigen Geschichte sind. An Referenzen und vor allem Selbstreferenz fehlt es nicht. Dabei ist „Heat“ das streckenweise erstaunlich treue Remake seines TV-Movie of the Week „L.A. Takedown“ aus dem Jahr 1969; der Traum, sich mit der Beute in eine bürgerliche Existenz verabschieden zu können, übernimmt McCauley direkt aus „Thief“ (und kann ihn genau so wenig erfüllen wie James Caans Frank im Film von 1981) und fortgeführt ist das in „The Insider“ (der wiederum auf realen Ereignissen fußt): Der Dr.Jeffrey Wigand verliert im Kampf gegen die mächtige Nikotin-Industrie seine bürgerliche Existenz, er wird zu einem der Mannschen Besessenen, die an einem Punkt nicht mehr zurück können, während gleichzeitig und umgekehrt Al Pacinos Journalist drauf und dran ist, seinen beruflichen Halt zu verlieren; „Miami Vice“ übernimmt Standards der Serie und macht doch einen ganz und gar eigenständigen Film daraus; die Gefahr des Abgrundes, die man aus „Manhunter“ kennt, wird hier von der anderen Seite her beleuchtet, und wie bei „Collateral“ besticht das Verbrechen durch seine Vernunft. „Ali“ setzt manchmal beinahe die Kenntnis der beiden großen Dokumentarfilme von William Klein und Leon Gast voraus, sowie des Biopic „The Greatest“ voraus, in dem Muhammad Ali sich selber spielt.

Auch einzelne narrative Momente des Michael Mann-Hyperfilms werden umgekehrt: In „Thief“ hat sich James Caan auf einem kleinen Stück Papier seinen Lebenstraum zusammen geklebt: Ein Haus, eine Familie, einen Gart, ein Kind. In „Manhunter“ hat William L. Petersen das zu Beginn der Handlung und verliert es. Ebenso träumt Robert De Niro in „Heat“ von einem bürgerlichen Familienglück, in „Insider“ verliert Russell Crowe eben dieses wieder; „Hawkeye“ und Muhammad Ali sind einander darin verwandt, dass sie sich dem Krieg, den eine Nation die die ihre nicht ist, führen wollen, entziehen, mit direkt entgegen gesetzten Folgen. Es ist das System von Spiegelungen, Variationen und Schatten, das sich in Michael Manns Filmen entfaltet, manchem auf eine immer ein wenig zu laute, zu wuchtige, zu offensichtliche Art. Michael Manns zeigen immer, wie um sie gekämpft wurde.

Aber dieses System ist immer auch voller Durchbrüche und Ausblicke. Dem Dokumentarischen, nur zum Beispiel, wird fast immer auch durch den Einsatz realer Menschen in Nebenrollen Rechnung getragen. In „Insider“ zum Beispiel spielt der Generalstaatsanwalt, der den Fall in der Wirklichkeit bearbeitete, auch die entsprechende Rolle im Film; in „Thief“ spielten Ex-Einbrecher und Polizeibeamte aus Chicago. Das ist mehr als eine Geste; Michael Mann macht Filme, die auch wieder zurück führen wollen zu der Wirklichkeit, der sie entnommen sind. Darum fügt der Regisseur immer wieder auch kleine „schmutzige“ Details ein, lässt eine Störung durch Zufälligkeit zu. Michael Mann nennt das „den Fingerabdruck der Wirklichkeit“. Deshalb charakterisiert die vage Erinnerung an Herbert Marcuse (den man als „Makjuse“ spricht) in „Insider“ nicht nur den Protagonisten. Jeder Kampf, den bei Mann ein einzelner führen muss, ist die Wiederkehr einer gescheiterten sozialen Bewegung. Eine Filmgeschichte ist hier so gut wie sie Platz für die Fingerabdrücke der Wirklichkeit bietet.

„The Last of the Mohicans“, „Heat“ und „Ali“, eine Trilogie der amerikanischen Revolten, keiner ein blockbuster, jeder immerhin von der Kritik respektiert, machten Michael Mann zu einem „heißen“ Regisseur in Hollywood. Die Reihe der Niederlagen aber setzte sich mit „Insider“ fort; der Film wurde für sieben „Oscars“ nominiert und erhielt keinen einzigen. Auch an der Kinokasse wurde er nicht gerade ein überwältigender Erfolg, auch wenn er wegen eines moderateren Budgets den Produzenten wenigstens Gewinn einbrachte. Michael Mann war vermutlich der Wirklichkeit wieder zu nahe gekommen.

Musik ist der wahre Herzschlag

Musik ist der wahre Herzschlag der Michael Mann-Filme; das Leitmotiv von „Last of the Mohicans“ vereint wunderbar das Drängende eines Marsches, die Bewegung eines Tanzes und die Melancholie eines Totenliedes; bei „Thief“ pulsiert die Elektronik von „Tangerine Dream“, Jan Hammers Titeltrack zur Serie „Miami Vice“ ist fast so bedeutend wie der Look der Serie. Oft unterhalten sich die Protagonisten über Musik. Wenn etwa Tom Cruise in „Colateral“ Jamie Foxx fragt, ob er Jazz mag, und der, nach einer Zeit, bekennt, dass er „Jazz nie verstanden“ hat, dann stecken darin jede Menge Geschichten. Die narrative Musik in allen Großstadtfilmen, die mit dem harten Schnitt und nicht im Takt verstummen kann, wie sie zu den Bars, den Diskotheken gehört, erschöpfen manchmal nicht nur die Helden sondern auch die Zuschauer. In seiner Welt scheint es einen permanenten musikalischen overflow zu geben. Der musikalische Diskurs muss manchmal im Überangebot erst gewonnen werden. In „Ali“ sind die Stimmen des islamischen Afrika, die Lieder von Salif Keita zum Beispiel, wie eine Heimat, die nie erreicht werden kann, und Sam Cookes „It’s allright“ als Leitmotiv und Seelenmedley für den Helden in seinem Kampf eine andere Heimat, die schon verloren ist: Der 1964 ermordete Cooke ist hier der musikalische Doppelgänger (lange sehen wir sein Konzert, bevor es ins Leben des eigentlichen Helden geht), den es, weniger offensichtlich vielleicht, auch für die anderen Michael Mann-Helden gibt. (Übrigens ist vielleicht der turnig point in „Collateral“ auch zu verstehen als der Punkt, an dem Jamie Foxx den Jazz versteht.) Eine ähnliche Warnung ist in „Miami Vice“ als Collin Farrel Gong Li fragt, ob sie die Allman Brothers oder Lynyrd Skynyrd kenne und sie verständnislos reagiert: Skynyrd? Das ist viel zu lange her. Die Musik bei Michael Mann verweist oft in eine andere Zeit, sie ist Erinnerung oder Utopie. Wie in „Miami Vice“ benutzt er dazu auch gern Cover-Versionen, so dass ein Musik-Stück gleichsam in zwei verschiedenen Zeiten klingt.

Wie in „Miami Vice“ ist die Musik übrigens oft eine Verbindung mit dem Vater. Der Vater ist nämlich der wunde Punkt im Leben von jedem Michael Mann-Helden. Es gibt keinen Film ohne ein Gespräch über die Väter. Verschwundene Väter, versagende Väter, gescheiterte Väter, gewalttätige Väter. Es gibt nichts, was hier sonst die Menschen so weich machen könnte, wo doch nur Härte zählen kann. Und nie ist ein Mann-Held näher daran, sich „psychologisch“ zu erklären. Das kann man, gewiss, als Akzent in der magischen Biographie des Michael Mann in seinen Filmen ansehen. Noch mehr aber ist es Teil der amerikanischen Tragödie. In Manns erstem Film, „The Jericho Mile“, ist der Held im Gefängnis, das er auf diese oder jene Art überwinden muss, weil er den Vater erschlagen hat.

Musik ist es auch, was Michael Manns erschöpften Helden in Bewegung hält, über die Grenze der physischen Kraft. Und erschöpft ist Michael Manns Held immer. Auch sein „Wildtöter“ (der uns ja, selbst in den gereinigten Versionen, nicht als harmloser Vorläufer eines Old Shatterhand in die Kindheit schien) darf nicht die „Wellenform“ des Western bzw. Pre-Western erleben zwischen Aktion und Ruhe. Er steht, wie alle Helden von Michael Mann, von vorneherein unter Druck, und der lässt bis zum Ende nicht mehr nach, obwohl er sich doch nach nichts so sehr sehnt wie nach Ruhe. Den Helden von „Blutmond“ lassen seine schaurigen Fälle, die makabren Serienmörder, nicht zur Ruhe kommen; Colin Farrell in „Miami Vice“ sieht schon in den ersten Einstellungen des Films so übernächtigt aus, dass wir ihm kaum zutrauen, einen ganzen plot durchzustehen (und wie immer kommt es noch viel schlimmer); in „Heat“ treffen sich Al Pacino und Robert De Niro gleichsam doppelt als erschöpfte Helden, in ihren Rollen und in ihrem Schauspieler-Status. Selbst Michael Manns Muhammad Ali, den wir doch gerade seiner tänzerischen Lebendigkeit wegen so weit über alles Boxerische hinaus schätzten, ist in seinem Film ein erschöpfter Held: Als er zum Kampf in Zaire antritt, da ist sein Leben schon unwiederbringlich verloren: Von der „Nation of Islam“ bitter enttäuscht, in der Liebe in der Zwickmühle kämpft er einerseits ganz buchstäblich um sein Leben, andererseits aber auch einen allgemeineren Kampf, und beide kann er, wie alle Helden von Michael Mann nur gewinnen, weil dahinter schon die große Niederlage steht. Die Organisation (hier ist es unter anderem ein korruptes Gewaltregime und eine opportunistische Sportindustrie) ist immer stärker. In „Insider“ ist Russel Crowe für seine selbst gestellte Aufgabe eigentlich schon zu behäbig und grau, und auch sein Partner, Pacino, spürt heftig die Grenzen seiner Kräfte. William L. Petersen in „Manhunter“ hat sich heillos zerrüttet, als er den Kannibalen Hannibal Lecter zur Strecke gebracht hat, und trotzdem muss er sich diesem Monster noch einmal stellen, um einen anderen Serienmörder zu finden, und wieder droht er, in der Suggestion seines Gegenübers zu versinken, dem zu widerstehen er von Anbeginn an viel zu ermattet und viel zu entsetzt erscheint. Alle Helden Michael Manns haben Mühe, die Augen offen zu halten, und noch mehr Mühe, sie einmal zu schließen.

Der „erschöpfte Held“ ist ein Gegenentwurf zum „ausruhenden Held“ wie wir ihn, einerseits, von griechischen Statuen her kennen, als den schwer auf seine Keule oder auf einen Felsen gestützten Titanen, andrerseits aus Filmen von, sagen wir, John Ford, auf der Veranda, mit übereinander geschlagenen Beinen. Der Michael Mann-Held hat größte Schwierigkeiten, zu sich und zu sich selbst zu kommen, und eine gewisse fiebrige Übernächtigkeit überträgt sich auf den Rhythmus und auf die Stimmung des Films. Der erschöpfte Held findet keine Möglichkeit zum Ausruhen. So gibt es hier keine verlässliche Ordnung von Tag und Nacht. Der erschöpfte Held kann nur einen erschöpften Zuschauer generieren.

Der erschöpfte Held ist zugleich der Besessene, ob Cop oder Gangster, Sportler oder Krieger. Übrigens verschweigt Michael Mann weder das Leiden noch den Zorn der Frauen ob solchen apokalyptischen Machismos: Es ist ja immer das ganze System, die Nation, die Welt, gegen die sich dieser Held sich auflehnt, und er weiß, dass diese Aufgabe zu groß ist: Muhammad Ali kommt bei seinem Lauf durch Kinshasa, vor dem großen rumble in the jungle, 1974 an einen Muralo, der ihn als Held des Volkes zeigt, der mit der eisernen Faust einen Panzer zerschmettert. Und Muhammad Ali erstarrt vor diesem seinem Bild.

Ein Erzähler der durchquerten Dualität

Er liebt es, zwei ungleiche aber schließlich doch ebenbürtige Gegner in den Kampf zu schicken, zwei Lebenskonzeptionen wohl auch, die allerdings mit „gut“ und „böse“ ganz falsch umschrieben wären. Die Kompliziertheit dieser Auseinandersetzung liegt zum einen in den Charakteren selber, sie haben den jeweils anderen in gewisser Weise in sich. Die Auseinandersetzung mit diesem Gegner ist, wie es in den großen, klassischen Western oft der Fall war, immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Das gilt sogar für den Kampf Muhammad Alis im Ring. Sie liegt zum anderen darin, dass die Kontrahenten durch Partner zugleich unterstützt werden und sich verletzlich machen. Auch Frank in „Thief“ wird zum Krieg gegen die Mafia gezwungen durch die Ermordung seines Freundes; Rain Murphy in „The Jericho Mile“ wird zum Läufer durch die Ermordung seines einzigen Freundes Stiles. Durch Geliebte und Ehefrauen werden die Kontrahenten ebenso angreifbar und ermattet wie durch Partner und Freunde. In „Showdown in LA“ wie in „Heat“ versucht der Gesetzlose jeweils den Unterschied zwischen Allein und Einsam sein zu erklären, aber genau das lehrt die Handlung, dass diese Unterscheidung so einfach nicht zu treffen ist. Umgekehrt sind die Partnerschaften längst nicht so stabil wie die Gegnerschaften. Die fulminante Spannung enthält „Collateral“ dadurch, dass beide Modelle gleichsam in einem stecken, der Taxifahrer und der Berufsmörder sind zugleich Feinde und Partner. In „Heat“ müssten der Gangster und der Polizist nach all ihrem Wesen eigentlich Freunde sein, und können sich doch nur bis zum Tod bekämpfen. Und in „The Insider“ müssen sich umgekehrt zwei Männer, die nur gemeinsam kämpfen können, auch immer wieder voller Zorn begegnen.

Es ist der schmuddelige und fahrige Waingro in „Heat“ der die entscheidende Störung in der Beziehung von Cop und Gangster darstellt, er macht aus einem sauberen Plan eine schmutzige Angelegenheit, und nicht einmal durch seinen Tod kann die Balance wieder hergestellt werden. Einen Widerschein davon bilden die drei Straßengangster in „Collateral“, die mit ihrer besinnungslos dummen Gewalt tödliche Unruhe stiften. Barbarei, Struktur und Subjekt begegnen sich immer in ihren extremsten Erscheinungen.

Alle Protagonisten Michael Manns scheinen immer kurz vor dem Wahnsinn zu stehen. Das ist keine psychologische Diagnose, es ist ihr kulturhistorischer Status. Unter allen Filmen von Michael Mann liegt die Shakespearesche Tragödie. Das zum Beispiel unterscheidet „Manhunter“ vom „Schweigen der Lämmer“; das erste ist die Tragödie eines Mannes, der sich am Bösen infiziert hat und ihm mit letzter Kraft standzuhalten versucht; das zweite ist ein psychologisches Drama über Wahrnehmung und Abhängigkeit. Daher die Coolness in Michael Manns Arbeit; es geht um die ungeheure Folge von Entscheidungen, die getroffen und nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Tragödie beginnt, wenn bereits alles zu spät ist (auch wenn es noch nicht alle verstanden haben); und jeder Michael Mann-Film beginnt an dem Punkt, an dem bereits alles zu spät ist. Man kann seine Helden in der Abwandlung des Grundsatzes des Existenzialismus sehen: Es sind Menschen, die gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen, zu denen sie weder das Wissen noch die Größe haben. Darin wirkt „Collateral“ wie ein Lehrbeispiel: Tom Cruise ist für Jamie Foxx nicht nur ein Alptraum sondern auch zugleich Verführer und Lehrer, und der schlägt ihn am Ende mit seinen eigenen Waffen, nämlich durch eine freie Entscheidung, die sich von der Todesangst frei gemacht hat. Der Zwang zur Entscheidung trifft in Manns Filmen häufig am heftigsten jene, die glaubten, sich nicht entscheiden zu müssen oder nicht entscheiden zu können. Die Erkenntnis der Freiheit der Entscheidung kommt, das ist das Paradoxon der Tragödie, wenn es zu spät ist. Peter Strauss in „Jericho Mile“ dreht „The Loneliness of the Long Distance Runner“ auf den Kopf; „Allah wird auf göttliche Weise Amerika kaputtmachen“, sagt Muhammad Ali. Immer begegnet das individuelle Chaos der Leidenschaften der Unerbittlichkeit des Systems: So lange der Film andauert sind die Chancen überraschenderweise in etwa gleich verteilt. Im extremsten Fall begegnen sich Computerprogramme und Mordimpulse („Manhunter“), Konzerne und einzelne Menschen („Insider“) oder Mafia und Diebeskunst („Thief“). Jenseits der Handlung aber gibt es nur das Scheitern. Das Happy End bei Michael Mann ist kein Notausgang, es ist ein grimmiger Scherz. Denn auch die Siege der Mannschen Helden sind in Wahrheit Niederlagen, weil sie immer mehr Teil des Systems sind als sie wissen. In jedem Michael Mann-Film steckt ein philosophisches Traktat über die Freiheit, über das Absurde (und wenn man genau hinsieht sogar: über die Liebe). Daraus, unter anderem, erklärt sich auch die Meta-Niederlage des Michael Mann: In Europa zählt man ihn zu den ganz Großen unter den Regisseuren des amerikanischen Kinos. Und in den USA selber bringen es sogar Filme wie „Heat“ gerade mal zum Achtungserfolg. Für Europa aber sind die Mann-Helden und ihre Probleme aber auch wieder zu amerikanisch. „Ali“, unbestritten ein großer Film, spielte bei Produktionskosten von 120 Millionen Dollar weltweit nur 90 Millionen wieder ein. Michael Mann gleicht seinen Helden insofern er dem System Hollywood mit einer Besessenheit begegnet, die von Niederlage zu Niederlage wächst. Ein Projekt, in dem Hollywood selber eine Rolle spielt, wenn auch in den 1930er Jahren, scheiterte 2007 schon bei den Budget-Verhandlungen, aber alles, was Michael Mann je gedacht und geschrieben hat, hat er auf direkte oder indirekte Weise auch auf die Leinwand gebracht. „Public Enemy“ ist unter anderem auch eine Michael Mann-Anthologie.

Zur Tragödie gehört die dramaturgische Spiegelung, die Figur, die vermittelt und die Lücken füllen muss. Etwa die Figur des Sportreporters Cosell (Jon Voight) und die des „Narren“ (Jamie Foxx in „Ali“): Der „Insider“ (Russel Crowe) kann nur durch den TV-Mann (Al Pacino) seine Mission erfüllen. Der (ermattete) Held ist immer einer, der eine eigene Geschichte (eine Geschichte der Entscheidungen) und eine allgemeine (eine Geschichte der Regeln) durchlebt. Was daraus entsteht ist eine Besessenheit, die nichts mit einer psychischen Krankheit zu tun, sondern Kern der Tragödie ist. Und immer wieder gibt es zwei Formen des Innehaltens, das eine mal wenn einer der Helden sich vor der Action für eine kleine Augenblick Atem holt das zweite wenn, wie in diesen Beispielen das Zeichen die Handlung unterbricht, und schließlich der Augenblick der Weite, wenn die Helden hoch über der Stadt stehen, wo, zum Beispiel, das Ghetto brennt wie in „Ali“. Es ist der Augenblick des Schweigens (man hat Mann dies als „Pathos“ angekreidet), aber auch in diesen Szenen geht es Michael Mann nicht darum, etwas zu sagen. Stattdessen gibt es etwas zu sehen. Was aber bedeutet „Sehen“ eigentlich? Es bedeutet, unter anderem, Entscheidungen treffen.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in epd Film 8/2009